Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
Die Entstehung des Westens als historischer Zivilisation (Auszüge aus «Wir und der Westen», 3/11)
Ein paar Jahrhunderte nach dem klassischen antiken Griechenland entwickelte sich ein erstes geographisch in Westeuropa angesiedeltes geopolitisch relevantes Gebilde: das römische Reich. Im westlicheren Mittelmeer wurde Rom viele Jahrhunderte lang das Zentrum eines Reiches, das den ganzen Mittelmeerraum und grosse Teile Westeuropas umfasste.
Illustration: Eurasien im 2. Jahrhundert
Quelle: https://en.m.wikipedia.org/wiki/File:Eurasia_in_2nd_Century.png
Das römische Reich hat seinerseits ein tiefreichendes und vielschichtiges Erbe hinterlassen, welches in der Folge das Abendland beeinflusst hat. Anders als im Fall des antiken Griechenland gibt es kaum andere Traditionen als die westliche, die das römische Erbe durchgehend für sich beanspruchen können. Ist es aber umgekehrt zutreffend, dass Rom bereits als Westen gelten kann?
Wichtige Aspekte aus der römischen Zeit in Regierungswesen und Politik, dem Rechtssystem, sowie Sprache und auch Religion haben allgegenwärtigen und dauerhaften Einfluss hinterlassen. Das neuzeitliche Abendland steht zu Rom sicher in einem gewissen direktem Bezug. Wie direkt und wie weitreichend ist dieser Bezug, und inwiefern gibt es eine direkte Kontinuität?
Die römische Schrift – unser Alphabet – ist etwas, das sich durchgehend und dauerhaft festgesetzt hat. Anders als das griechische Alphabet, dessen solide Kenntnis weniger verbreitet scheint, kann jeder heutige Westler lateinische Inschriften entziffern. Zur Frage, wie genau die Römer die lateinische Sprache aussprachen, scheint es noch immer keine übereinstimmende Meinung zu geben. In jedem Fall ist Latein zumindest lesbar und aussprechbar.
Lateinisch genau zu verstehen erfordert ein bisschen mehr, und doch ist die lateinische Sprache, ob man sich dessen bewusst ist oder nicht, sehr präsent. In den Schweizer Landessprachen Französisch, Italienisch und Rätoromanisch ist zwischen drei und vier Fünfteln des Wortschatzes auf das Lateinische zurückzuführen. Im Deutschen selber stammt jedes zehnte bis zwanzigste Wort aus dem Latein. Und im Englischen kommen auch, je nach Schätzung, mindestens ein Drittel oder vielleicht mehr als die Hälfte des Wortschatzes aus dem Lateinischen, entweder direkt oder via das Französische.
In vielen Bereichen genügt es für die von uns aus am meisten gelernten Sprachen wie Englisch, Französisch, Englisch und Spanisch, einen Begriff nur ein einziges Mal zu lernen. Die respektiven Wörter in den verschiedenen Sprachen sind systematisch fast die gleichen. Das gilt unter anderem für wissenschaftliche Begriffe aller Art, speziell für medizinisches und juristisches Vokabular, sowie für religiöse und kirchliche Terminologie. Zusammen mit dem Altgriechischen bildet das Lateinische die semantische Grundlage für haufenweise Begriffe und Wörter. Noch heute sind sie die Destination für die Suche nach neuen Wortschöpfungen, sei es für neue Technologie oder für Produktewerbung.
Illustration: Der Westen in der Welt – Neue Computerchipfirma Rapidus in Japan
Quelle: Bildschirmfoto von Nikkei Shinbun Zeitung, November 2023.
Ein Beispiel aus Japan erlaubt dieses Phänomen aufzuzeigen, und gleichzeitig den Platz des Westens in der Welt zu illustrieren. Im Rahmen der globalen Konkurrenz in der Halbleiterindustrie (Computerchips) hat Japan eine Grossinitiative gestartet, für die Herstellung der nächsten Generation von Halbleitern ein inländisches Projekt aufzubauen.
Der Name der neuen Unternehmung lautet Rapidus. Das Wort stammt aus dem Lateinischen und bedeutet schnell. Grammatikalisch ist es die männliche Einzahlform des Adjektivs. Meine Vermutung ist, dass dieser grammatikalische Aspekt keine Rolle gespielt hat bei der Namenswahl. Ebenso hätte die weibliche Form rapida oder die sächliche Form rapidum ausgewählt werden können. Abgesehen von der Bedeutungsebene der Geschwindigkeit war wahrscheinlich der Klang und eine Art tiefere Bedeutung, die im Lateinischen gesehen wird, ausschlaggebend. Durch die Verständlichkeit des Wortes, das heisst die Nähe zum englischen Wort rapid («schnell»), ist der Name für viele Japaner auch zugänglich und eingängig, und darüberhinaus einem grossen Teil der Welt.
Auch in diesem Fall ist der Einfluss des Englischen, und seine globale Rolle, zentral. So ist die phonetische Umschreibung im Japanischen mit der Lautschrift Katakana (welche für Lehnworte verwendet wird) ラピダス (rapidasu), und nicht, wie es lauttechnisch natürlicher wäre, rapidusu. Wieder kann der Sache nicht auf den Grund gegangen werden ohne Bezug auf den Westen, und zwar sowohl in seiner zivilisatorischen Tiefe via das Lateinische als auch in seiner gegenwärtigen geopolitischen Stellung via das Englische, die global-imperiale Lingua franca. So wurden bei dieser Namensschöpfung gleichzeitig die zivilisatorische Tiefe des Westens und die zeitgenössische Dominanz der Anglosphäre angezapft.
Latein ist nicht nur allgegenwärtig, was Wörter und ihre Bedeutung anbelangt, sondern es ist auch grammatikalisch nahe an all den erwähnten Sprachen, das Deutsche nicht ausgeschlossen. Berühmt unter Schülern ist, wie nützlich das lateinische Fallsystem ist, um die deutschen Fälle Nominativ, Akkusativ, Dativ und Genitiv zu verstehen. Von Zeitformen über Präpositionen zu zusammengesetzten Wörtern ähnelt sich vieles in all den westeuropäischen Sprachen. Mich selbst hat dies inspiriert, an der Entwicklung eines Lehrmittels für Muttersprachler des Japanischen zu arbeiten, welches aufzeigt, wie nahe sich Englisch, Französisch und Deutsch sind. Die Idee dahinter ist, dass das Erlernen dieser Sprachen viel einfacher werden kann, wenn man sich des Ausmasses der Ähnlichkeiten bewusst ist. Das gleiche gilt zweifellos für die Westler selbst beim erlernen anderer westlicher Sprachen. Wissen um die lateinische oder griechische Herkunft von Wörtern und Begriffen, aber auch um dort her stammende grammatikalische Eigenheiten, vereinfacht den Zugang zu den anderen Sprachen. Abgesehen vom «Gratisverstehen» von vielen Wörtern trägt das Wissen um regelmässig auftretende Muster auch dazu bei, dass die Orientierung leichter fällt.
Wenn ich Demokratie als das heute allgegenwärtigste politische Konzept bezeichnet habe, könnte sein, dass ich übertrieben habe. Gut möglich, dass Republik Demokratie diesen Rang streitig macht. Beide Begriffe sind aus den offiziellen Staatsformen und -namen nicht wegzudenken. Republik kommt vom Lateinischen res publica, was wörtlich «die öffentliche Sache» bedeutet. Die römische Republik war gekennzeichnet durch die Teilhabe der Bürger an politischen Entscheidungen durch Wahlen und politische Ämter. Die Ideen der Repräsentation und der Beteiligung am politischen Prozess sind auch heute noch relevant für Gesellschaften mit republikanischer und demokratischer Orientierung.
Auch das grundlegende Prinzip der Gewaltenteilung, das sich in modernen demokratischen Systeme wiederfindet, existierte in Rom. Die Idee ist, dass die Macht im Staat ausgewogen bleiben und dadurch die Gefahr von Missbrauch und Tyrannei reduziert werden soll. Die römische Republik kannte eine gewisse Gewaltenteilung zwischen Senat (dem obersten Beratungs- und Verwaltungsorgan) und Volksversammlungen, beide eine Art Legislative, sowie den Magistraten (politischen Amtsträgern, die vom Volk gewählt wurden), einer Art Exekutive. Ein weiteres Konzept, das oft mit der römischen Republik in Verbindung gebracht wird, ist das der Rechtsstaatlichkeit. Die Idee besteht darin, dass auf die Einhaltung von Gesetzen und die Unabhängigkeit der Justiz Wert zu legen ist.
Im Militärwesen war die römische Armee bekannt für ihre Disziplin, Organisation und Effizienz. Die Römer bauten beeindruckende Infrastruktur, zum Beispiel ein weitreichendes Strassennetz und Aquädukte (Wasserleitungssysteme). Von besonderem Einfluss war auch das römische Rechtssystem. Das römische Recht diente als Grundlage für das moderne kontinentaleuropäische Zivilrecht. Viele Rechtsgrundsätze und Prozeduren, die auch heute noch wichtig sind, stammen da her. Der römische Einfluss findet sich auch in der Architektur sowie in der Kunst, wie in anderen Dimensionen.
Eine wichtige Rolle spielte Rom schliesslich auch bezüglich Religion. Nachdem es das Christentum zuerst zu unterdrücken versuchte, wurde dieses im vierten Jahrhundert n. Chr. zur offiziellen Staatsreligion. Dadurch wurde die spätere Christianisierung ganz Europas eingeleitet.
Wie vielen Menschen auf der ganzen Welt ist wohl bekannt, wenn sie dieses Jahr einen Hollywood-Film schauen, was das Kürzel MMXXIV am Ende des Films bedeutet? Noch heute findet man oft im Abspann auch modernster Produktionen die Jahreszahl in römischen Zahlen, in diesem Fall zum Beispiel für 2024 (M ist tausend, X ist zehn, das I ist eins und V ist fünf; auf vier kommt man durch eins weniger als fünf durch das dem V vorgestellte I).
Nichtsdestotrotz sind Zahlen eines der Gebiete, wo der globale Standard nicht aus dem Westen stammt. Seit dem späten Mittelalter begannen auch die Europäer das Indo-Arabische Zahlensystem zu verwenden. Dieses war in Indien erfunden worden, und wurde via die arabisch-islamische Welt weiterentwickelt und verbreitet. Es stellte sich als dem römischen Zahlensystem überlegen heraus aufgrund der sogenannten Stellenwertnotation (bei der die Position einer Ziffer innerhalb einer Zahl für den Wert ausschlaggebend ist), der Einbeziehung der Null, und der Ermöglichung einfacher Rechenoperationen.
Zur Zeit seiner grössten Ausdehnung um etwa 117 hatte das römische Reich weite Territorien Europas umfasst. Es war ihm jedoch nie gelungen, die germanischen Stämme an der Nordgrenze ins Reich zu integrieren. Im Kontext der sogenannten Völkerwanderung (etwa 300 n. Chr. - 700 n. Chr.), als die Hunnen – aus Zentralasien stammende nomadische Stämme – in Richtung Europa aufbrachen, kam auch Bewegung in die germanischen Stämme im Norden und Osten Europas.
Illustration: Römisches Reich zur Zeit seiner grössten Ausdehnung um etwa 117
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6misches_Reich#/media/Datei:RomanEmpire_117_de.svg
Bei gleichzeitiger innenpolitischer Instabilität, wirtschaftlichen Problemen und militärischer Schwäche führte dies dazu, dass germanische Stämme im 5. Jh. das Weströmische Reich zu Fall brachten. Daraufhin entstanden in den ehemaligen römischen Gebieten mehrere germanische Reiche, darunter das der Westgoten auf der iberischen Halbinsel, das der Vandalen in Nordafrika und das der Franken in Gallien. Diese Entwicklungen führte zur Verschmelzung von römischen und germanischen Traditionen, was die Grundlage für das mittelalterliche Europa legte.




