Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
Die Entstehung des Westens als historischer Zivilisation (Auszüge aus «Wir und der Westen», 1/11)
Das erste Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung scheint ein sinnvoller Startpunkt, um den Spuren des Westens nachzugehen. Wir befinden uns in der jüngeren Bronzezeit und der Eisenzeit. Über jene Zeit verfügen wir über römische Geschichtsschreibung, archäologische Funde und sprachhistorische Rekonstruktionen. Demgemäss lebten in Europa mehrheitlich keltische Stämme in den sogenannten Hallstatt- und La-Tène-Kulturen. Dies war mehr oder weniger zur Zeit, als Herodot in Griechenland das Konzept Abendland skizzierte.
Das gängige Modell unterteilt die europäische Urgeschichte in die Steinzeit (~Mio. Jahre v. Chr. bis ~3000/2000 v. Chr.), die Bronzezeit (~3000/2000 v. Chr. bis ~1200/800 v. Chr.), und die Eisenzeit (~1200/800 v. Chr. bis ~300/100 v. Chr.) gemäss den vorrangigen Materialien für Werkzeug-, Waffen- und Schmuckherstellung. Nomadische Lebensformen kleiner Stämme von Jägern und Sammlern aus früherer Zeit waren bereits zu sesshafterem Dasein in dauerhafteren Siedlungen und Ortschaften übergegangen. Es gab Handel und Austausch mit der Mittelmeergegend (wovon griechische, in Artifakten sichtbare, Kultureinflüsse zeugen), und die Gesellschaft scheint hierarchisch strukturiert gewesen zu sein. Dazu scheint es religiös-spirituelle Vorstellungen und Praktiken gegeben zu haben, und folkloristische Brauchtümer, die indirekt überdauert haben. Das Osterfest könnte so auf keltische Frühlingsfeste zum Erwachen der Natur nach dem Winter zurückgehen. Bei all diesen Dimensionen ist davon auszugehen, dass sie spätere zivilisatorische Entwicklungen beeinflusst haben.
Illustration: Westeuropa zur Hallstatt- und La-Tène-Zeit
Verbreitung der Hallstatt-Kultur (gelb) und der La-Tène-Kultur (grün)
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/ee/Hallstatt_LaTene.png
Auf der direkten sprachlichen Ebene scheinen keltische Überbleibsel vor allem in geographischen Namen und einigen alltäglichen Wörtern vorhanden zu sein. Die meisten Menschen waren vermutlich landwirtschaftlich tätig und lebten in Bauernhöfen oder kleinen Ortschaften, wobei die Stammesoberen in höher gelegenen Festungssiedlungen wohnten. Ob die ländlichen Lebenswelten in der jüngeren Neuzeit noch darauf zurückgehen und im Kern damit vergleichbar sind?
Das Keltische ist heute als Sprache noch lebendig als das Walisische in Wales und das Schottisch-Gälische in Schottland (Grossbritannien), als das Irische in Irland, und als das Bretonische in der Bretagne in Frankreich, sowie mit kleineren Vertretern wie dem Manx oder dem Kornischen in Cornwall.
Illustration: Keltische Ausbreitung in Europa
Gelb=Gebiet der Hallstattkultur im 6. Jh. v. Chr. / Grün rundherum=Größte keltische Ausdehnung um 275 v. Chr. / Hellstgrün in Iberien=Lusitania (keltische Besiedlung unsicher) / Mittelgrün in Nordwesteuropa=Die sechs „keltischen Nationen“ mit keltischen Sprachen in der Neuzeit / Dunkelgrün=Heutiges Verbreitungsgebiet keltischer Sprachen
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kelten#/media/Datei:Celts_in_Europe-fr.svg
All dies lässt uns noch mit relativ leeren Händen zurück. Von heute aus gesehen ist schwer nachzuzeichnen, welche fundamentalen weltanschaulichen und lebensweltlichen Vorstellungen und Realitäten auf diese Zeit zurückgehen. Soweit wir herausfinden können, gab es aber vor 2500 Jahren in dieser Gegend noch keine klareren Vorläuferspuren einer späteren westlichen Zivilisation. Weder gab es ein sozio-politisches Gebilde, das als Vorgänger gelten könnte, noch scheint es ideen- und symbolmässig viel gegeben zu haben, das offensichtlich bis heute Einfluss ausgeübt hätte.
Illustration: Die Welt vor 2500 Jahren
Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Achaemenid_Empire#/media/File:World_in_500_BCE.png
Zu der Zeit, ein halbes Jahrtausend v. Chr., entstanden aber bereits immer komplexere Gesellschaften und Staaten, wie das antike Griechenland selbst, sowie als erstes grosses Imperium das persische Achämenidenreich, das auch als Vorläufer der persischen Zivilisation (heute Iran) gelten kann. Ebenso erkennt man in der Illustration ein proto-chinesisches politisches Gebilde (die Zhou-Staaten), oder auch die Staatengebilde in Südasien, in Indien.
Illustration: Die Welt vor 2500 Jahren – noch kein «Westen» weit und breit
Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Achaemenid_Empire#/media/File:World_in_500_BCE.png
Die geopolitisch bedeutsamen Entwicklungen in der weiteren Region hatten im mesopotamischen Gebiet (Μεσοποταμία mesopotamia, «zwischen den Flüssen», also dem Zweistromland um Tigris und Euphrat) sowie im östlicheren Mittelmeerraum stattgefunden. Der vorhin erwähnte Herodot hatte das Perserreich und die sogenannten Perserkriege beschrieben, bei denen die Griechen im Jahr 490 v. Chr. bei Marathon und um 480/479 v. Chr. bei Salamis die Feldzüge des persischen Achämenidenreiches abgewehrt hatten.
Diese Schlachten finden sich prominent in der heutigen Unterhaltungsindustrie wieder. Im kalifornischen Hollywood, wo ein einflussreicher Teil der zeitgenössischen Geschichtenerzählungen hergestellt wird, werden die Zuschauer zur Identifizierung mit den Griechen gegen die persischen «Barbaren» angeleitet. Der Bezug ist relevant im Zusammenhang mit dem geschichtlichen Selbstbezug innerhalb des Westens, das sich als die Nachkommen der Griechen inszeniert.
Die griechischen Stadtstaaten und nachfolgend das Reich von Alexander dem Grossen entwickelten sich schliesslich zum politisch und kulturell dominanten Pol der Region über die kommenden Jahrhunderte.
Aus Schweizer Perspektive ist zu erwähnen, dass die Helvetier ein keltischer Stamm jener Zeit gewesen waren. Der Name stammt in der Form von den Römern, welche sie so – helvetii – genannt hatten. Erst das moderne Staatswesen zuerst der Helvetischen Republik (1798-1803) und dann der Bundesverfassung im 19. Jh. verwendete den lateinischen Begriff Confoederatio helvetica («Helvetische Vereinigung») und Helvetia als Symbole der Schweizer Nation.