Kaum verschleierte Oligarchien oder wirklich legitime Gesellschaftsordnung?
Der Westen als zeitgenössisches Gebilde (Auszüge aus «Wir und der Westen», 11/11)
Auszüge aus Wir und der Westen:
→ 1/11 Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
→ 2/11 Das antike Griechenland als Schlüsselreferenz – nicht nur für den Westen
→ 3/11 Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
→ 4/11 Die Entstehung der Schweiz inmitten des Westens
→ 5/11 Westliche Expansion und imperiale Kontinuität
→ 6/11 Der Westen in der Neuzeit – Das Mass fast aller Dinge
→ 7/11 Der Westen in der Weltordnung
→ 8/11 Unipolar-hegemonial-transatlantisch gefärbte und verzerrte Perspektiven
→ 9/11 Rahmenerzählung und Realität im unipolaren Augenblick
→ 10/11 Westliche Funktionsweisen – «liberal» und «demokratisch»?
[Fortsetzung von Westliche Funktionsweisen – «liberal» und «demokratisch»?]
Hier besteht auch schon eine zentrale Grundspannung in unserem Selbstbild als liberale Demokratien. Die oben beschriebene Form von Wirtschaftsliberalismus steht in Konflikt mit Demokratie. Kapitalismus und Demokratie beissen sich. Oder zumindest der heute real existierende tut dies. «Kapitalistische Demokratien» sind in Wahrheit ein Ding der Unmöglichkeit.
Wo die sogenannten Marktkräfte nach Expansion und kurzfristigem Gewinn streben, ziehen angesichts dessen gewisse Menschen und politische Kräfte Zustände vor, in denen den Marktkräften Grenzen gesetzt werden. Der demokratische politische Prozess sieht eigentlich vor, dass das dementsprechend geschehen würde. Ein Stück weit ist dies auch der Fall, jedoch sind die neoliberal-kapitalistisch-imperialen Interessen sehr durchsetzungsfähig und wissen regelmässig, demokratische politische Präferenzen in die Schranken zu weisen.
Wolfgang Streeck hält die glorreichen Jahrzehnte von Koexistenz zwischen Kapitalismus und Demokratie der Nachkriegszeit für die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Wie der französische Ökonom Thomas Piketty empirisch belegt hat, ist die Rendite auf Kapital über die letzten drei Jahrhunderte gesehen mit Ausnahme der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg stets grösser gewesen als die Wirtschaftswachstumsrate («R>G»). Bloss in den Nachkriegsjahrzehnten war der Trend umgekehrt, und jene Zeit durch starkes Wirtschaftswachstum sowie durch breite Einkommenssteigerungen und eine ausgeglichenere Verteilung des Reichtums gekennzeichnet. In der Regel, wie über die letzten Jahrzehnte wieder ersichtlich, geht die Tendenz hin zur Konzentration von Reichtum und zunehmenden Vermögensungleichheiten.
Ob dies mehr aus dem Kapitalismus inhärenten Prinzipien oder aber mehr aus spezifischen Machtkonstellationen heraus erfolgt ist, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass in den uns nahestehenden letzten Jahrzehnten mit dem Druck der Finanzialisierung die Ehe zwischen Kapitalismus und Demokratie in die Brüche ging. Demokratie ist seither bloss insofern erlaubt gewesen, als die Kontrolle der Wirtschaft den sogenannten Marktkräften überlassen worden ist.
Auch die sich wandelnde Rhetorik der letzten Jahre, wo sogar in Mainstreamkreisen das Scheitern der marktfundamentalistischen Dogmen zugegeben und gewisse Schritte in andere Richtungen eingeschlagen wurden, vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, wie grundlegend neoliberal die zeitgenössische Wirtschaft in der Mehrheit des Westens geworden ist. Auch zögerliche Schritte in eine andere Richtung vermögen das tiefe Wesen der gegenwärtigen Realität nicht im Kern zu verändern.
Solange die grundlegenden Funktionsweisen des Finanzkapitals und seiner Dominanz nicht tieferliegend angegangen werden, ist keine wirkliche Veränderung denkbar. Schon ein gutes Jahrzehnt – mindestens – werden diese Themen mehr schlecht als recht unter den Teppich und aus dem Sinn gekehrt, und durch Thematiken wie Kulturkämpfe, Immigration, Klima, Gesundheit und neuerdings Krieg überlagert. Das Thema unserer Casino-Finanzarchitektur und seiner Verwerfungen wird aber nicht verschwinden, und müsste im Interesse der Menschen und der Gesellschaft angegangen werden.
Wie Emmanuel Todd, der die westlichen Gesellschaften liberale Oligarchien nennt, bezeichnet diese auch Streeck als «kaum verschleierte Oligarchien». Diese Worte vermögen manche vielleicht noch zu schockieren, erscheinen aber seit geraumer Zeit als durchaus banal. Nie war die Vermögens- und Einkommensverteilung seit dem Zweiten Weltkrieg so unausgewogen wie heute, und die Tendenz geht weiter in die gleiche Richtung.
In der Corona-Zeit fand eine der grössten Vermögensverschiebungen der jüngeren Geschichte von unten nach oben statt. Für die frühere Vorzeigedemokratie USA ist es nicht einmal mehr kontrovers zu erwähnen, dass die Meinungen der Bevölkerung von den Repräsentanten im Kongress kaum vertreten werden. Massgebend sind die Interessen der oben erwähnten und ähnlicher Kreise. Nicht viel anders scheint es in vielen europäischen Ländern zu stehen, wo von Technokraten in Brüssel gewünschte Entscheidungen auch im Fall von Gegenmehrheiten der Bevölkerung durchgesetzt werden.
Die Unzufriedenheiten weiter Teile der Bevölkerung werden seit einem guten Jahrzehnt als Populismus bezeichnet, und die Schuld respektive Ursache und Verantwortung weniger auf die gefällten Entscheidungen, und also auf die politische Klasse, als auf populistisch genannte Akteure geschoben. Die Bezeichnung Populismus in ihrer negativen Konnotation ist, bei näherer Überlegung, die Kulmination anti-demokratischer Einstellung. Ehrlicher wäre, die politökonomischen Grundlogiken unserer Gesellschaft zu überdenken, über unseren unipolar-hegemonial-transatlantischen Ausgangspunkt nachzusinnen, und die damit einhergehenden neoliberal-imperialen Impulse zu überdenken.
Als Schweizer ist interessant zu beobachten, dass in den meisten sich Demokratien nennenden westlichen Ländern die direkte Mitbestimmung der Bevölkerung eine weitaus geringere Rolle spielt als hierzulande. Anders als in der Schweiz, wo mehrmals jährlich über verschiedenste Dinge abgestimmt wird, beschränkt sich die Ausübung der Demokratie in den meisten anderen Ländern auf die Wahl von Volksvertretern.
Nur wenige Länder haben überhaupt direktdemokratische Elemente, und wo sie existieren, sind sie in Umfang und Regelmässigkeit weniger ausgeprägt. Zwar gibt es in deutschen Bundesländern, Kalifornien, Uruguay und ein paar weiteren europäischen Ländern Volksbegehren und Volksabstimmungen. Nirgendwo gibt es jedoch wie in der Schweiz die Möglichkeit und die regelmässige Praxis, mit einer Volksinitiative – 100000 Unterschriften – eine Verfassungsänderung vorzuschlagen oder durch ein fakultatives Referendum – 50000 Unterschriften – eine bereits vom Parlament beschlossene Gesetzesänderung anzufechten, sodass die Stimmbevölkerung das letzte Wort hat. Damit soll nicht gesagt sein, dass das Schweizer System unbedingt am besten funktioniert, und zu den besten Ergebnissen führt. Es ist aber im Kern demokratisch, das heisst es folgt in der Form einigermassen direktdemokratischen Prinzipien.
Interessanterweise geraten Leute, die sich als Demokraten verstehen, in eine argumentative Zwickmühle, wenn sie in ihrem eigenen Land erweiterte Volksrechte ablehnen. Wie kann man sich als Verfechter demokratischer Prinzipien sehen und gleichzeitig der Meinung sein, dass erweiterte Volksrechte keine gute Idee seien?
Dies führt zu Argumenten, welche die Idee der Demokratie einschränken oder gar anti-demokratisch sind, etwa, dass die Bevölkerung dafür nicht bereit oder dass die Risiken eines Kontrollverlusts der aufgeklärten politischen Eliten zu gross wären. Während solche Ansichten durchaus begründbar sind, befürworten sie eben nicht die Demokratie an sich. Mehr Demokratie ist nur insofern besser, als man Demokratie für einen Wert an sich hält. Direkte und andere Formen des demokratischen Handhabens von Staat, Verwaltung und Regieren sind nicht an sich unbedingt besser und führen nicht unbedingt unter allen Gesichtspunkten zu besseren Ergebnissen.
Demokratischer bedeutet in erster Linie demokratischer. Alles weitere hängt von vielen Faktoren ab. Der Punkt hier ist aber, dass westlichen Politikern und Meinungsexponenten gut bekäme, in Bezug einerseits auf Selbsteinschätzung und andererseits auf Missionieren in Demokratiebelangen das Mass zu halten. All das Erwähnte wirft die Frage auf, wie überzeugend sich Länder im internationalen Kontext als beispielhafte Demokratien verkaufen können, in denen die Bevölkerung nur alle vier oder fünf Jahre Volksvertreter wählt und ansonsten keine Mitsprache hat. Um glaubwürdig andere in Bezug auf Demokratie kritisieren zu können, wäre eine gewisse Kohärenz vonnöten.
Demokratische und freiheitliche Defizite finden sich nicht nur in innen- und aussenpolitischen Belangen, sondern auch im Bezug auf Werte wie Pressefreiheit und Meinungsfreiheit, welche in Worten aber weniger kohärent in Taten hochgehalten werden. Das vielleicht schmerzhafteste und wichtigste Beispiel dazu ist Julian Assange, der australische Gründer der Enthüllungsplattform Wikipedia. Für das Bekanntmachen von mehrheitlich von den amerikanischen Streitkräften begangenen Kriegsverbrechen in Irak und Afghanistan wurde er auf für sich Rechtsstaaten nennende Länder beschämende Art und Weise behandelt. Auch Nils Melzer, der Schweizer UNO-Sonderbeauftragte für Folter, schaltete sich in den Fall ein.
Edward Snowden, der andere bahnbrechende Whistleblower der 2010er Jahre, der im Asyl in Moskau lebt, müsste in seiner Heimat Amerika, wie im ganzen politischen Westen, Schlimmes befürchten. Snowden hatte 2013 enthüllt, dass die amerikanische Geheimdienstbehörde Nationale Sicherheitsagentur (NSA, National Security Agency) umfangreiche Überwachungsmassnahmen durchgeführt hatte, die nicht nur grosse Teile der amerikanischen Bevölkerung, sondern auch ausländische Führungspersönlichkeiten, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, ins Visier genommen hatten. Er hatte nichts weniger als die Existenz einer umfassenden und ausgeklügelten Überwachungsinfrastruktur mit globaler Reichweite aufgedeckt, und bekanntgemacht, auf welche Weise diese verwendet wurde.
Beide Fälle wurden von grossen Teilen der westlichen «freien» Presse mitgetragen und das Vorgehen der Behörden nur ungenügend kritisch beleuchtet. In der voraussehbaren Zukunft können sie dazu dienen, die von westlicher Seite stammenden und an andere Länder gerichteten Vorwürfe bezüglich Presse- und Meinungsfreiheit daraufhin zu prüfen, ob diese wirklich prinzipienbasiert, oder bloss opportunistisch und geopolitisch auf Linie der eigenen Regierungen, gewesen sind. Wer Julian Assange nicht in dem Zusammenhang erwähnt, ist nur schwerlich als glaubwürdig für die Sache einstehend einzustufen.
Die Medienlandschaften der westlichen Länder selbst entsprechen auch kaum dem Ideal einer freien «vierten Gewalt». Die nach wie vor einflussreichen früheren Leitmedien weisen starke Tendenzen zur Konzentration auf, und stehen mehrheitlich im Besitz von nur wenigen Konzernen. In den USA kontrollieren deren fünf – Comcast (NBC und Sky Group), Walt Disney (ABC, ESPN, 20th Century Fox), Warner Bros. Discovery (HBO, CNN, Warner Bros. Studios), Paramount Global (CBS, MTV, Nickelodeon), sowie Fox Corporation (Fox News und Fox Broadcasting) – ungefähr 80-90% der Fernseh- und Nachrichtennetzwerke. In Grossbritannien sind die Medien ebenso konzentriert, wobei neben dem öffentlich-rechtlichen BBC die privaten Unternehmen News UK (Teil von Rupert Murdochs Medienimperium, mit The Times und The Sun), Reach plc (Daily Mirror) und DMG Media (Daily Mail) dominieren.
In Frankreich wird die Medienlandschaft grossmehrheitlich von wenigen Milliardären kontrolliert, darunter dem Groupe Bouygues von Martin Bouygues (TF1, LCI), dem Groupe Lagardère von Arnaud Lagardère (Europe 1, Le Journal du Dimanche, Paris Match), dem Groupe Canal+ von Vincent Bolloré (Canal+), Altice Media von Patrick Drahi (BFMTV, RMC, Libération), sowie Group Iliad von Xavier Niel (Le Monde, L'Obs). In Deutschland schliesslich dominieren Unternehmen wie Bertelsmann (RTL Gruppe), Axel Springer (Bild, Die Welt), Pro Sieben Sat 1 Media (ProSieben, Sat.1), Hubert Burda Media (Focus, Bunte), neben den öffentlich-rechtlichen Netzwerken wie ARD und ZDF sowie Medienhäusern wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die Süddeutsche Zeitung, oder die Zeit. Wird jemand ernsthaft behaupten wollen, dass die Anreizmechanismen in einem solchen System so stehen, dass das Angehen aller relevanten Themen bestmöglich begünstigt wird? Wie bereits ausgeführt, dünkt mich realistischer zu erwarten, dass in der Tendenz eine gemäss den Interessen, die den Besitz- und Machtstrukturen zugrundeliegen, gefärbte Weltsicht daraus resultiert.
Die wirklich massgebliche Angelegenheit, so allgemein wie möglich gesprochen, ist der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsordnung und öffentlichem Diskurs in Bezug auf «Güte» und Legitimität. Schematisch gesprochen wäre in einer guten Welt die Gesellschaftsordnung einigermassen gut und legitim, und würde als solche anerkannt werden. Es gäbe darin gesunde Mechanismen der Kritik und gleichzeitig eine funktionierende Art der Neutralisierung von destruktiven Handlungen und Äusserungen.
Im gegenteiligen Pol einer unguten und illegitimen Gesellschaftsordnung würde viel Empörung und Ungerechtigkeitsempfinden hervorgerufen, Kritik und Widerstand würde entstehen, würde aber von etablierten Kreisen der Macht mit Mischungen von Brot und Peitsche unterdrückt. Selbstverständlich ist eine Gesellschaftsordnung selten bloss schwarz oder weiss, nur gut und legitim, oder das Gegenteil. Sie besteht aus besseren und weniger guten Aspekten, und ist mehr oder weniger legitim.
Dabei sind im Prinzip, noch ein bisschen abstrakter gesprochen, die folgenden Möglichkeiten denkbar. Ein bestimmter gesellschaftlicher Zustand kann entweder gut und legitim oder ungut und illegitim sein. Je nach Ansprüchen und Ansichten – zum Beispiel «es könnte noch viel schlimmer sein», oder «muss es dieses Leid oder diese Ungerechtigkeiten wirklich geben?» – wird man einen Zustand als angemessen und mehrheitlich vertretbar, oder als unangemessen und vor allem kritikwürdig beurteilen.
Wie schon mehrmals suggeriert, steht und fällt jedes dieser Urteile mit einer zusammengeführten Einschätzung zu den drei Ebenen, nämlich wie die Realitäten sind, wie sie sein könnten, und wie sie sein sollten. Einfache totale Wahrheiten sind im Gesellschaftlichen nicht leicht aufzufinden. Mir scheint aber, dass ob dem Selbstbild von guten und freien Demokratien bei uns weitgehend argumentslos davon ausgegangen wird, dass unsere Gesellschaften zu ersterem Modell gehören, und viele sogenannte «Nicht-Demokratien» zu letzterem. Diese Annahme ist aber weder hilfreich im vergleichenden Kontext, noch dem Bewahren und Verbessern seiner selbst dienlich.
Man kann sich im öffentlichen Diskurs zu einem bestimmten Zustand verschieden positionieren. Man kann einen Zustand eher gut und legitim finden, und Kritik daran als tendenziell übertrieben und von fragwürdigen Motiven getrieben taxieren. Dies wäre eine konservative Positionierung, nämlich eine, gemäss welcher der bestimmte Zustand auch gute Seiten habe und nicht zu stark angegriffen werden dürfe. Ein Beispiel wäre Kritik an der liberalen Wirtschaftsregulierung, die als neidbasiert dargestellt würde, wo doch die Meritokratie alles in allem gut funktionieren würde und jedem, der zum Beispiel Chancenungleichheiten anprangert, es eigentlich selbstverschuldet nicht in eine bessere Situation gebracht hätte.
Umgekehrt kann man einen Zustand eher ungut und nicht legitim finden, und dass er verbessert werden sollte und auch könnte. Dies wäre eine kritische oder progressive Positionierung, gemäss welcher Kritik und positive Veränderung im Zentrum stehen sollten. Im Beispiel der liberalen Wirtschaftsregulierung könnte auf strukturelle Unfairness und ähnliche Mechanismen verwiesen werden. Das gleiche kann man für jedes Thema, und von verschiedenen Werthaltungen aus, durchspielen. An jemanden, der konservativ-bewahrend argumentiert, lohnt sich die Frage zu stellen, wo er genau die Grenzen sehe, und was es brauchen würde, damit er einen bestimmten Zustand kritik- und verbesserungswürdig finden würde. In Abwesenheit einer Antwort handelt es sich um ideologisch motiviertes reaktionäres Verhalten.
Andererseits lohnt an eine kritisch-progressiv argumentierende Person die Frage, wo für sie die Grenzen wären, und ob es für sie auch Sachen gebe, die Wert haben und bewahrt werden sollen. Falls hier nichts erwidert wird, wäre auch dies ein Fall eines ideologisch motivierten Widerstandsverhaltens. Die hinter allem stehende Kernfrage ist, inwiefern die Gesellschaft als «Statusattribuierungssystem» gut funktioniert. Sind Personen in einflussreichen und privilegierten Positionen mehrheitlich aus guten Gründen (spezielle Anstrengungen, Fähigkeiten, Erfahrungen, etc.) dort, wo sie sind, oder eher aus weniger guten Gründen (Elitenreproduktion, Ausschlussmechanismen, Klassensolidarität, Gehorsam, etc.)?
Während es absolut wünschenswert ist, dass der Gesellschaftszustand mit guten Gründen als gut und legitim zu bezeichnen wäre, kann paradoxerweise die Annahme, dass dem so wäre, die Wahrnehmung trüben. Heutzutage zum Beispiel stellen sich etablierte Politkreise in westeuropäischen Ländern auf den Standpunkt, dass die Gesellschaftsordnung mehrheitlich gut und legitim, und demnach tiefere Kritik tendenziell überrissen, destruktiv oder gar undemokratisch wäre.
Das schliesst von vornherein die Möglichkeit aus, dass es vielleicht tieferliegende Probleme geben könnte. Die Selbstwahrnehmung als mehrheitlich gut und legitim erscheint übertrieben optimistisch, wie ich gleich anhand von Schlüsselbeispielen der letzten Jahre darlegen will. Wie sicher sind wir, dass der gesellschaftliche Diskurs gut funktioniert und den relevanten kritischen Stimmen genügend Platz eingeräumt wird, um die Balance zu wahren zwischen dem, was bewahrt, und dem, was verändert werden sollte?