Der Westen in der Weltordnung
Der Westen als zeitgenössisches Gebilde (Auszüge aus «Wir und der Westen», 7/11)
→ 1/11 Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
→ 2/11 Das antike Griechenland als Schlüsselreferenz – nicht nur für den Westen
→ 3/11 Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
→ 4/11 Die Entstehung der Schweiz inmitten des Westens
→ 5/11 Westliche Expansion und imperiale Kontinuität
→ 6/11 Der Westen in der Neuzeit – Das Mass fast aller Dinge
Wie hat sich die Rolle des Westens in der Weltordnung über die Jahrhunderte seiner Expansion und seiner Modernisierung entwickelt? Was war der Weg vom Westen als einer unter vielen Zivilisationen in der prämodernen Zeit hin zur im Westen zentralisierten Weltordnung zu Beginn des 21. Jahrhunderts?
Die gegenwärtige Weltordnung ist die des «unipolaren Augenblicks» (unipolar moment). Diese Jahrzehnte von nur einem Machtzentrum auf der Welt ist die Zeit, in der meine Generation in den 1990er und 2000er Jahren gross geworden ist. Es ist die unhinterfragte Realität gewesen, in der wir bis vor kurzem gelebt haben. Diese Zeitspanne und ihre geopolitische Logik zu verstehen ist ein wichtiger Schlüssel für das Verständnis alles weiteren. Alles – inklusive die Beurteilung der Rolle des Westens, und unseres Verhältnisses zu ihm – steht und fällt mit der Einordnung dieser geopolitischen Umstände und der Rolle «des Westens» darin.
Der unipolare Augenblick der letzten Jahrzehnte folgte auf die bipolare Weltordnung der «Nachkriegszeit», also der Zeit von zwei machtpolitisch und ideologisch einander entgegengestellten Blöcken nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zeit bis und mit den zwei Weltkriegen davor wiederum war die Epoche, in welcher westliche Grossmächte – und Japan in den Jahrzehnten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs – sich die Welt grösstenteils aufgeteilt und sich gleichzeitig in Auseinandersetzungen untereinander verwickelt hatten. Es war die Zeit, in der die westlichen Mächte global derart stark geworden waren, dass sie die Musse hatten, sich in Machtkämpfe untereinander zu verzetteln. In diesem Sinn war der Westen also aus der prämodernen Logik von nebeneinander lebenden Zivilisationen ausgebrochen und hatte sich über die anderen Zivilisationen gestellt.
Die Frage scheint lohnenswert, inwiefern zu jener Zeit das Konzept oder die Vorstellung des Westens als Zivilisation überhaupt noch bewusst vorhanden war. In gewissem Sinn war es bestimmt da, und gleichzeitig scheint es sich ob der eigenen Dominanz auch in den Hintergrund verschoben zu haben. So beteiligten sich beispielsweise zu Beginn des 20. Jh. die westlichen Kolonialmächte – inklusive Russland – an gemeinsamen Militäraktionen zum Beispiel in China, und traten insofern als Einheit auf. Gleichzeitig bewegten sie sich in Europa selbst auf Konflikte untereinander zu. Vieles spricht heute dafür, dass die Jahrhunderte westlicher Vorherrschaft ihrem Ende zugehen, und dass wir zu einer vor kurzem noch kaum denkbaren multipolaren Logik von neben- und miteinander existierenden Zivilisationen zurückkehren.
Der Schlüsselmoment für die Entwicklung der internationalen Beziehungen der westdominierten Zeit ist das bereits erwähnte Ende des Dreissigjährigen Krieges gewesen, als um 1648 die sogenannte Westfälische Ordnung formell souveräner Nationalstaaten ins Leben gerufen wurde. In vielschichtigen historischen Prozessen war es soweit gekommen, dass der Westen aus den von Dugin beschriebenen zivilisatorischen Abgrenzungen der Vorneuzeit ausbrach. Der zum Teil religiös (zwischen Katholiken und Protestanten) und zum Teil machtpolitisch (auch das katholische Frankreich wendete sich gegen die Habsburger) motivierte Dreissigjährige Krieg fand in einem Westen statt, der die eigenen Zivilisationsgrenzen gesprengt hatte. Er hatte die Welt zu erobern begonnen, und war auf dem Weg in neuartige gesellschaftliche und weltanschauliche Richtungen.
Mit dem Westfälischen System entstand das Konzept von souveränen Nationalstaaten, welche sich formell gleichberechtigt gegenüberstehen und davon absehen sollten, sich in die internen Belange der anderen einzumischen. Der oberste Grad von Souveränität sollte fortan nicht mehr bei Kaiser oder Papst als höchstem Glied des gesamten Reiches respektive «der Zivilisation» stehen, sondern bei den kleineren Einheiten der Nationalstaaten. So entwickelten die westlichen politischen Gebilde ein neues System internationaler Ordnung und internationalen Rechts, welches sie schrittweise auf die Welt zu übertragen begannen. Obwohl es formell für alle zu gelten hatte, wurde den meisten politischen Gebilden ausserhalb Europas der untergeordnete Status von Kolonien zugewiesen. Erst nach und nach wurden Staaten wie die USA, die sich die Unabhängigkeit von den europäischen Kolonisatoren erkämpft hatten, und später den Imperialisten widerstehende Mächte wie Japan, in den Chor der «gleichberechtigten» Nationen aufgenommen.
Noch später, mit der Dekolonisierung und der Weltordnung der Vereinten Nationen im späteren 20. Jh. nach dem Zweiten Weltkrieg wurde den kolonisierten Staaten Afrikas und Asiens der formelle Status souveräner Staaten eingeräumt. Diese Souveränität ist aber in vielen Fällen in der Realität unvollendet geblieben, und in der Regel spielten westliche Länder und Institutionen wesentliche Rollen bei der Perpetuierung von politischen und wirtschaftlichen Zuständen, die von manchen als Neo-Imperialismus angesehen worden sind. Ein aktuelles Beispiel sind die Regierungen, die erst vor kurzem in der Sahelzone in Afrika an die Macht gekommen sind, welche westlichen Imperialismus in Form von Einsetzung und Unterstützung von Marionettenregierungen sowie unangebrachte Ressourcenkontrolle bis in die Gegenwart anprangern. Beim ersten Treffen der 2023 gegründeten Allianz der Sahelstaaten, einem Bündnis der Länder Burkina Faso, Niger und Mali (alles ehemalige französische Kolonien), legte Burkina Fasos Präsident Ibrahim Traoré eindrücklich dar, dass und wie diese Staaten sich für ihre nationale Souveränität und ihre wirkliche Emanzipation einzusetzen gedenken.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Vereinten Nationen (UNO) nahmen diese Logik von souveränen Nationalstaaten wieder auf, und verbrieften sie auch in der UNO-Charta. Der Charta gemäss ist die Anwendung und Androhung von Gewalt gegenüber anderen Staaten verboten. Die einzige legale Anwendung von Gewalt muss in Resolutionen vom UNO-Sicherheitsrat abgesegnet werden. In Tat und Wahrheit wurde diese Logik nie konsequent umgesetzt, sondern war sowohl in der bipolaren als auch in der unipolaren Ordnung seither stark unter Druck.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich also zwei Blöcke gebildet. Zum einen der geopolitische Pol «Westen» des Kalten Krieges, rund um die USA und Westeuropa, zum anderen der «Osten» rund um die Sowjetunion inklusive Osteuropa. Der Westen vertrat ideologisch Kapitalismus, und der Osten Sozialismus respektive Kommunismus. Der sogenannte eiserne Vorhang teilte Europa in Ost und West, und – wie in einem deutschsprachigen Kontext nicht unerwähnt bleiben kann – Deutschland wurde unterteilt in die Bundesrepublik (BRD) im Westen und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) im Osten, was erst mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 aufgehoben wurde.
Nach dieser von bipolarer Konfrontation geprägten Nachkriegsordnung sind wir also seit den 1990er Jahren in den Zeitraum des «unipolaren Augenblicks» eingetreten. Aus der Gegenüberstellung zweier sowohl ideologisch als auch machtpolitisch entgegengesetzter Blöcke wurde ein einziger Pol und scheinbar eine einzige dominierende Ideologie mit einem einzigen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Während die älteren heute lebenden Generationen den Übergang noch bewusst miterlebten, sind Menschen unter vierzig seit der frühen Kindheit in dieser unipolaren transatlantisch-zentrierten Weltordnung gross geworden. In diesen Jahrzehnten herrschte der Geist des «Endes der Geschichte», wonach ab sofort alle Gesellschaften freiheitliche Demokratien mit kapitalistischer Wirtschaft werden würden. Die sogenannte Pax Americana würde, unter gutmütiger Aufsicht der USA, für Frieden und Wohlstand auf der Erde sorgen.
Mit dem Eintritt in die unipolaren Jahrzehnte wurde die Weltordnung des «Westens» aus dem Kalten Krieg internationalisiert und auf den «Osten» jener Zeit ausgedehnt. Das Zeitalter der sogenannten «liberalen internationalen Weltordnung», oder der liberalen Hegemonie, setzte ein. Im Unterschied zur Zeit davor, als – wie John Mearsheimer es nennt – parallel zwei «begrenzte Ordnungen» (bounded orders) in der jeweiligen Sphäre geherrscht hatten, gab es nunmehr nur noch ein Set von Regeln.
Die liberale internationale Ordnung war erst jetzt richtig international geworden, nachdem sie vorher vor allem auf den Westen des Kalten Krieges beschränkt geblieben war. Wo es vorher im Osten den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW, auf Englisch Comecom), das Kommunistische Informationsbüro (Kominform, ein überstaatliches Bündnis verschiedener kommunistischer Parteien) und das Militärbündnis des Warschauer Abkommens (bei uns meistens, kaltkriegerisch, in zweifelgenerierender Konnotation «Pakt» genannt) gegeben hatte, bestand nun die Gelegenheit für die USA, die Institutionen der liberalen Ordnung, welche im Kalten Krieg für «den Westen» gegolten hatten, auf die ganze Welt zu übertragen. So wurde zum Beispiel die Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO, mit Sitz in Genf) ausgeweitet, respektive traten Länder wie China und Russland bei.
Das rechtfertigende Prinzip im Hintergrund der sogenannten liberalen Weltordnung war, dass ein Machtzentrum – die USA – dafür sorgen würde, dass die Regeln eingehalten und keine anarchischen Zustände sich ausbreiten würden. Gleichzeitig gab es auch den Anspruch, sogenannte liberale Normen in der Welt weiterzuverbreiten. In den Jahren nach 1990 wurde aus den bereits bestehenden Elementen europäischer Integration die Europäische Union (EU) gegründet, und wie die NATO schrittweise erweitert. Der europäische Binnenmarkt mit den «vier Grundfreiheiten» freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit, und freier Kapital- und Zahlungsverkehr existiert seit 1993. Die Beziehung zu diesen Gebilden ist und bleibt seit Jahrzehnten das wahrscheinlich grösste Politikum in der Schweiz. Mich dünkt sinnvoll, das Ganze in den Kontext vom Westen als Ganzem und seinem Platz in der Welt zu stellen. Die Beurteilung des Westens in der Zeit der unipolaren letzten Jahrzehnte steht und fällt mit der Beurteilung dieser von ihm geschaffenen und verbreiteten Ordnung, und wie er, «der Westen», sich darin verhalten hat.
Vieles deutet darauf hin, dass die unipolare Weltordnung an ihre Grenzen gestossen ist und dass eine neue Weltordnung im Entstehen begriffen ist. Dabei hatte nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende der Zweiteilung vielseits grosse Hoffnung bestanden, dass eine Zeit des Friedens und der Zusammenarbeit anstelle von Konfrontation und Krieg folgen könnte. Das heute im Raum stehende Zerfallen der globalen Ordnung muss nach Ursachen und Gründen analysiert werden. Wie sind die letzten Jahrzehnte gewesen, wie hätten sie sein können, und wie hätten sie sein sollen? Wie hat sich «der Westen» dabei verhalten, und wie hätte er sich verhalten sollen und können?
Alexander Mercouris vom Geopolitik-Podcast The Duran spricht vom Eindruck eines «verlorenen Friedens» (lost peace). Mit Verbitterung erinnert er sich an die weit verbreiteten Hoffnungen der späten 1980er Jahre, als es geschienen hatte, es gäbe wirkliche Anstrengungen, die Konfrontationslogik des Kalten Krieges zu beenden. Stattdessen stellt er eine Entwicklung fest, die in Richtung einer neuen Konfrontation und des Aufbaus von alternativen Handels-, Wirtschafts- und Finanzarchitekturen von rivalisierenden Grossmachtblöcken zeigt.
An die «westlichen Regierungen» gerichtet meint er jedoch, diese müssten verstehen, dass die neue Konfrontation sehr verschieden von derjenigen des vorherigen Kalten Krieges sein werde. Damals – in der Konfrontation zwischen USA und Sowjetunion – habe der Westen für eine Mehrheit der Menschen in der Welt die attraktivere Ideologie und Lebensweise gehabt. Als viel bedeutenderer Grund noch sei der Westen der Sowjetunion und ihren Alliierten wirtschaftlich, industriell und technologisch überlegen gewesen. Diesmal sei aber die andere Seite technologisch und industriell dem Westen überlegen, und bringe vielleicht auch die attraktivere Agenda vor.
Das Gefühl der Verbitterung rührt für Mercouris daher, dass eine Gelegenheit für etwas Besseres verpasst und zerschlagen worden sei. Ursache und Verantwortung dafür können sowohl bei einem selbst als auch «bei den anderen» gesucht werden. Man kommt nicht umhin, sich in dieser Fragestellung Orientierung zu verschaffen. Die Vertreter der EU, der NATO, und der Regierungen der meisten westlichen Länder sehen die Verantwortung mehrheitlich in den Unzulänglichkeiten anderer Mächte. Wie gerechtfertigt sind solche Anschuldigungen, und wie steht es um die eigene Verantwortung? Wie nahe beieinander liegen der real existierende Westen und seine offizielle Selbstwahrnehmung?