Unipolar-hegemonial-transatlantisch gefärbte und verzerrte Perspektiven
Der Westen als zeitgenössisches Gebilde (Auszüge aus «Wir und der Westen», 8/11)
Auszüge aus Wir und der Westen:
→ 1/11 Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
→ 2/11 Das antike Griechenland als Schlüsselreferenz – nicht nur für den Westen
→ 3/11 Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
→ 4/11 Die Entstehung der Schweiz inmitten des Westens
→ 5/11 Westliche Expansion und imperiale Kontinuität
→ 6/11 Der Westen in der Neuzeit – Das Mass fast aller Dinge
→ 7/11 Der Westen in der Weltordnung
Die Realitäten einerseits sowie die Vorstellung und Darstellung der Realitäten andererseits stimmen nicht immer miteinander überein. Vielmehr klaffen sie oft auseinander. Wie ich in der Einleitung im Vorübergehen erwähnt habe, halte ich es für eine zentrale Einsicht der Gesellschaftswissenschaften, dass man solche Diskrepanzen zu erwarten hat. Es handelt sich nicht um eine seltene Ausnahme, sondern um die Regel. Zwar können Vorstellungen zu einer Sache der Realität dieser Sache relativ nahe kommen, sie können aber auch weit davon entfernt sein, und sind es nur allzu oft.
Dieses Phänomen ist weit herum bekannt. Viele Leute werden zum Beispiel einem Chronisten der Habsburger aus dem Mittelalter nicht einfach Glauben schenken, wenn dieser König Rudolph als gütig und vom Volk geliebt darstellt. Wir wissen, dass das Abhängigkeitsverhältnis – seine Existenz und sein Status hingen vermutlich davon ab, dass er auf gewisse Weise schrieb – des Chronisten vom Monarchen dazu führt, dass eine Färbung und Verzerrung (ein «Bias») wahrscheinlich ist. Über das Individuum des Chronisten hinaus sind die gesellschaftlichen Umstände und die Einbettung in ein politisches Gebilde in Betracht zu ziehen. Wie es das oft wiederholte Diktum, wonach die Kriegsgewinner die Geschichte schreiben, ausdrückt, gibt es auch das Individuum übersteigende gesellschaftliche und politische Faktoren. Zugang zu gewissen einflussreichen Positionen wird gefiltert. Wer nicht wie «das Regime» denkt, wird weit vor der Ankunft in einer einflussreichen Position aussortiert. Um es überspitzt und anachronistisch auszudrücken, ein republikanischer (also anti-monarchischer) Demokrat (also anti-Oligarch und anti-Imperialist) hätte gar nicht erst Chronist der Habsburger werden können. Und ein politisch und ideologisch den Interessen des Kriegsgewinners nicht konformer Geschichtsschreiber wird es schwerlich zum Autor der offiziellen Geschichtsbücher schaffen. Dies sind umfassende Probleme und müssen in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit ausgehandelt werden, in sich als frei und demokratisch verstehenden Gesellschaften ebenso wie in anderen.
Der amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky, der aufgezeigt hat, wie Elitenkreise in den USA sich dem «Fabrizieren von Einverständnis» (manufacturing consent) und «notwendigen Illusionen» (necessary illusions) für das gemeine Volk verschrieben haben, hat auch dieses Phänomen beispielhaft verständlich gemacht. In einem Interview von 1996 mit dem Journalisten Andrew Marr vom britischen öffentlich-rechtlichen (sprich staatsnahen oder -tragenden) Fernsehsender BBC erklärt Chomsky, wie eine Art Filterungssystem durch alle Selektionsprozesse hindurch dazu führe, dass nicht genehme Meinungen haltende Individuen ausgefiltert würden. Die von Marr vertretene Sichtweise, dass sich Journalisten sehr machtkritisch verhalten würden, wischt Chomsky als eigennützige Selbstwahrnehmung zur Seite. Als Marr am Ende fragt, wie Chomsky wissen könne, dass er [Marr] Selbstzensur üben würde, bringt es Chomsky auf den Punkt: «Ich suggeriere nicht, dass Sie Selbstzensur üben. Ich bin sicher, Sie glauben jedes Wort, das Sie sagen. Was ich sage, ist, dass, wenn Sie etwas anderes glauben würden, Sie nicht da sitzen würden, wo Sie jetzt sitzen.»
Ähnlich wie bei Chronisten in der Vorzeit ist uns auch bewusst, dass zum Beispiel der sowjetischen Regierung in Moskau nicht immer zu glauben war. Es gab gewisse ideologische Sichtweisen und Aspekte im politischen System, welche das Verbreiten von verzerrten Perspektiven – sogenannte Propaganda – wahrscheinlich machten. Ebenso werden noch heute viele Leute hierzulande erwarten, dass Meinungen aus dem Kreml mit Vorsicht zu geniessen sind, da sie eine bewusst gefärbte Sicht auf die Welt präsentieren würden. Ähnlich erwartet man aus China, wo Informationsfreiheit nicht als erstrangiger Wert hochgehalten wird und gewisse Themen und Meinungen der Zensur unterliegen, tendenziöse Verzerrungen im öffentlich zugänglichen Diskurs.
Interessant ist jedoch, dass es viel weniger üblich scheint, die solchen Erwartungen zugrundeliegenden Prinzipien auf uns selber anzuwenden. Die Überzeugung sitzt tief, dass im «freien und demokratischen Westen» Meinungsfreiheit und Pressefreiheit herrschen und diese sich im öffentlichen Diskurs auch widerspiegeln würden. Nur schon der Versuch, den Kontrast zwischen «bei uns» und anderswo als nicht ganz so drastisch darzustellen, kann schon zu grossem Widerspruch und Verstörung bei «Westlern» führen. Wie überzeugend ist es aber, zu glauben, dass Verzerrungen und tendenziöse Einfärbungen im öffentlichen Diskurs bei uns nur ein kleines Randphänomen sind, und grundsätzlich alles ohne Konsequenzen diskutiert und gesagt werden kann und es auch wird? Ich glaube, es lohnt sich, diese Sache von Grund auf anzuschauen.
Jede Realität wird aus einer bestimmten Perspektive wahrgenommen, und aus einer bestimmten Perspektive mit bestimmten Absichten dargestellt oder vermittelt. Jede Perspektive wiederum beinhaltet notwendigerweise eine Auswahl, eine Betonung, eine Filterung und eine Umrahmung der darzustellenden Sachverhalte. Selbst ein sich der Wahrheitsfindung verpflichtender Journalist kommt nicht umhin zu entscheiden, welche Aspekte eines Phänomens ausgewählt zu werden verdienen, welche Aspekte hervorgehoben und welche gestrichen gehören, und wie das Ganze eingerahmt werden soll. Das Ideal der wertneutralen Darstellung ist nicht ohne Verdienste, aber mir scheint, dass man ihm recht selten in ausgewachsener Form über den Weg läuft. Plausibler und realistischer ist das Ideal, über die in der jeweiligen Perspektive enthaltenen Färbungen und Verzerrungen Rechenschaft abzulegen. Indem man zum Beispiel offenlegt, welche Werte man vertritt oder welche Interessen man verfolgt, legt man dar, inwiefern man sich seiner eigenen Limiten – die jeder hat – bewusst ist. Die Zuhörer können so über die Kohärenz des Gesagten und die intellektuelle und moralische Integrität des Sprechers urteilen. Ich glaube, dass jeder dies intuitiv spürt, und viele Leute im Kern die Aufrichtigkeit – also den Bezug zur Wahrheit (le rapport à la vérité), wie der französische Anwalt und Autor Juan Branco es einmal schön ausdrückte – spüren. Im Dschungel der allgegenwärtigen Propaganda und manipulativen Kommunikation von Werbung und politischer «Kommunikation» ist es aber sehr anspruchsvoll, sich zwischen falschen und richtigen Ideen zu orientieren und Sachverhalte zuverlässig als wahr oder unwahr einzuordnen.
Wer etwas liest oder jemandem zuhört, ist sich also mehr oder weniger bewusst, dass der Autor oder die Sprecherin eine bestimmte Perspektive einnimmt. Die Frage ist nur welche Perspektive das ist. Zum Teil ist die Perspektive individuell und man muss den persönlichen Werten, Interessen, Ideen und sonstigen Präferenzen nachgehen, um diese zu eruieren. Dazu kommt jedoch auch die von Chomsky kritisch beschriebene Dimension, wonach es für jede bestimmte Gesellschaft oder jedes gewisse Milieu naheliegend ist, dass eine Tendenz zu einer gemeinsamen Perspektive existiert. Die in einem gesellschaftlichen oder politischen Gebilde vertretenen Werte und Weltbilder, sowie die Interessen und Ideen, werden dazu tendieren eine bestimmte Färbung oder Verzerrung der Perspektive zu verursachen.
Diesen Sachverhalt an sich auszusprechen beinhaltet noch kein Werturteil, und bedeutet bloss, dass dies unvermeidbar ist. Falls dies auf ungute Weise geschieht, wie Chomsky es im Fall der USA sah, dann ist diese Tendenz kritisch zu sehen. Falls es auf «gute Weise» geschehen sollte, könnte es auch nichts weiter als ein vielleicht sogar unvermeidbarer, notwendiger und wünschenswerter Mechanismus sein. Gewisse auf Grundwerten basierte Grundnormen in einer Gesellschaft vorhanden zu haben und diese den öffentlichen Diskurs leitend zu sehen könnte durchaus einer gesunden Gesellschaft entsprechen. Die Frage ist also nicht, ob es solche Tendenzen gibt, sondern welche es sind, und ob es die richtigen sind. Welche Färbungen und Verzerrungen tendieren dazu, in unseren Alltag Einzug zu halten durch die Medien, welche die öffentlich vorhandenen Gedanken «vermitteln» («mediieren») und zu uns bringen – sind es die richtigen und guten Werte, die sich darin widerspiegeln?
Selbst wer noch so reflektiert unterwegs ist, und sich noch so sehr der Wahrheit oder dem gemeinsamen Wohl verpflichtet fühlt, ist nicht dessen gefeit, die rundherum dominierende Perspektive einzunehmen. Wie könnte es anders sein – es braucht viel, nur schon die wesentlichen Teile der Lebenswelten und Weltanschauungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Zu den unbewussten und halb bewussten Einfärbungen kommt schliesslich die bewusste Manipulation hinzu, die sogenannte Propaganda oder PR (Public Relations) der «Kommunikations-» und Werbebranche. Darin geht es bewusst darum, einen Sachverhalt in ein bestimmtes Licht zu rücken, gewisse Aspekte zu betonen und andere zu verstecken, und in der Regel eine gewisse Rahmenerzählung – ein Framing, ein Narrativ – voranzubringen.
Langer Rede kurzer Sinn: Diese ganzen langen Ausführungen dienen einzig dem Beweis, dass man wirklich eine Färbung und Verzerrung der allgemeinen Perspektiven zu erwarten hat, und die Frage nicht ist, ob es Perspektivenfärbungen und -verzerrungen gibt, sondern worin diese bestehen. Vernünftigerweise würde man erwarten, dass mit gewisser Wahrscheinlichkeit die Machtverhältnisse in einer Gesellschaft, dazu speziell einflussreiche Interessengruppen, sowie die dominanten Ideologien und darüber hinaus die Grundannahmen der Gesellschaft, sich in diesen Perspektivenfärbungen widerspiegeln. Über die vorhandene Meinungsvielfalt aller Individuen hinaus haben ohne Zweifel Institutionen und Organisationen wie die Regierung, einflussreiche Lobbyverbände, Massenmedien, gewisse internationale Akteure, Business-Verbände und ähnliche Gruppen und Individuen wahrnehmbaren Einfluss auf den öffentlichen Diskurs. Gibt es darüber hinaus tiefere Merkmale der Grundeinfärbungen dieses öffentlichen Diskurses, welche sich über den ganzen Westen, inklusive die Schweiz, erstrecken? Was könnte das dominante «westliche Narrativ» sein, das man zu erwarten hat? Zu erwarten wäre, denke ich, genau diejenige Diskrepanz, welche zwischen «dem Westen», wie er in Wirklichkeit ist, und «dem Westen», wie er sich offiziell darstellen will, existiert.
Wie ich bereits darzulegen begonnen habe, hat «der Westen» – weiter unten wird eine Analyse folgen, welche Teile des Westens wirklich gemeint sind – die letzten Jahrzehnte nach der Vorherrschaft in einer unipolaren Weltordnung gestrebt. Er ist in Wirklichkeit der Hegemon und hängt daran, den unipolaren Augenblick beizubehalten. Darstellen will er sich aber als eine Ansammlung demokratischer, menschenrechtsfreundlicher und eine friedliche liberale Weltordnung fördernder Gebilde. Wer über keine Informationen zur tatsächlichen Situationen verfügen würde, würde vernünftigerweise als tagtäglich in sämtliche Erzählungen eingebettete Grundannahmen exakt eine Verzerrung des unter diesen Gesichtspunkten dargestellten Westens erwarten.
Um meine Einschätzung vorwegzunehmen: In der Tat glaube ich, dass die real existierende Hauptverzerrung unserer Zeit – das grösste Narrativ, die umfassendste Geschichte – in der unipolaren liberal-imperialen Ideologie besteht, die von einem transatlantisch zentrierten Machtgebilde herrührt. Weiter unten werde ich dies genauer darlegen. Es ist das von einer imperialen Version des Westens kolportierte Narrativ, welches den Westen als auf ethisch überlegene Werte gebaute und in der Realität ethisch überlegene Gesellschaften darstellt. Dieser «gute Westen» dürfe oder müsse sich auch in der Welt und bei den ethisch weniger entwickelten Gesellschaften einmischen, um seine universellen Werte voranzubringen.
Dieses Narrativ stammt unter anderem aus Washington, aus London und aus Brüssel. Es ist die Konsens-Rahmenerzählung des amerikanischen und des britischen Politikestablishments, sowie desjenigen der EU und der NATO. In ganz Europa, wie auch der Schweiz, wie dies bei Kaspar Villiger einsehbar gewesen ist, ist dieser «transatlantische Unipolarismus» die Grundannahme über die letzten Generationen und Jahrzehnte hinaus gewesen. Bis heute hält diese Position die Monopol-Stellung der Deutungshoheit. Sie setzt die Grenzen des Sag- und Denkbaren. Was diesen Annahmen zuwiderläuft, stösst auf Gegenwind und kommt unter Rechtfertigungsdruck.
Diese Tatsache kann man gut finden oder nicht. Sie zu verneinen hingegen dünkt mich keine haltbare Position. Zwar können sich die Geister in der Beurteilung dieser Situation scheiden. Die Situation selbst nicht als Realität zu anerkennen dünkt mich im Jahr 2024 nur mehr schwer nachzuvollziehen.
Ob die transatlantisch-unipolare Deutungshoheit – so wie sie in der Realität umgesetzt wird – gut ist oder nicht, ist der entscheidende Punkt. Und genau bei diesem Punkt steht und fällt alles mit der Beurteilung der Rolle des Westens in der Welt. Fällt diese nämlich positiv, sprich «gut», aus, ist allenfalls darüber zu diskutieren, die transatlantische hegemoniale Unipolarität als verteidigenswert zu betrachten. Auch dann wird die Bürde der Rechtfertigung nicht klein sein, aber es gäbe möglicherweise Gründe, darauf einzusteigen. Oder wenn es zum Beispiel keine besseren Alternativen dazu geben sollte, könnte man sich vielleicht mit dem «so wie es ist» begnügen. Falls die Rolle «des Westens» aber negativ – nicht gut – ausfällt, dann wird es schwieriger.