Rahmenerzählung und Realität im unipolaren Augenblick
Der Westen als zeitgenössisches Gebilde (Auszüge aus «Wir und der Westen», 9/11)
Auszüge aus Wir und der Westen:
→ 1/11 Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
→ 2/11 Das antike Griechenland als Schlüsselreferenz – nicht nur für den Westen
→ 3/11 Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
→ 4/11 Die Entstehung der Schweiz inmitten des Westens
→ 5/11 Westliche Expansion und imperiale Kontinuität
→ 6/11 Der Westen in der Neuzeit – Das Mass fast aller Dinge
→ 7/11 Der Westen in der Weltordnung
→ 8/11 Unipolar-hegemonial-transatlantisch gefärbte und verzerrte Perspektiven
Falls es die – eigentlich allseits anerkannte – unipolare hegemoniale Weltordnung der letzten Jahrzehnte gibt, sollte man diese noch etwas genauer festmachen können. Man würde auch ausserhalb von amerikanischen Strategiepapieren und den bereits erwähnten Regimewechseloperationen, der wirtschaftlichen Eindämmungspolitik von Rivalen und illegalen Invasionen in sämtlichen Sphären Zeichen von ihr finden, von der militärisch-politischen über die wirtschaftlich-finanzielle bis zur kulturellen und gesellschaftlichen. Inwiefern gibt es solcherlei?
Wenn man die Realität anschaut und dabei die Hypothese zulässt, dass wir uns auch unserer eigenen Propaganda zu entziehen haben, ergibt sich ein ziemlich deutliches Bild. Zum Beispiel im militärisch-politischen Bereich in Bezug auf Allianzstrukturen, Umspannung der Welt mit Militärmitteln, Vorhandensein offensiver Schlagkraft, und globale Sicherheitsordnung der Vereinten Nationen, im wirtschaftlichen Bereich in Bezug auf die globale Finanzarchitektur, die Wirtschaftsmacht von multinationalen Unternehmen und Technologiemonopole, und im kulturellen Bereich in Bezug auf die Unterhaltungsindustrie, die globale Lingua Franca und vieles mehr kann manches als Teil einer unipolar-hegemonialen Weltordnung gedeutet werden.
Das «westliche» Militärbündnis NATO umfasst 32 Staaten und steht für mehr als die Hälfte der weltweiten Militärausgaben. Die USA, welche stets den militärischen Oberbefehlshaber der NATO stellen, geben alleine ein Mehrfaches für ihre Streitkräfte aus als jedes nachfolgende Land auf der Welt. Sie unterhalten etwa 750-800 Stützpunkte rund um die ganze Welt (zum Vergleich, Russland 20-40; Frankreich und Grossbritannien je 10-15; China 3-5), davon Dutzende in Deutschland, Japan, Italien und Südkorea.
Die USA verfügen auch über am meisten der Machtprojektion dienlichen Flugzeugträger, nämlich deren 11 (RU 1; GB 2; China 3; Indien 2, FR 1). All dies untermauert die bereits festgestellte Hegemonie des Westens, respektive der NATO oder der USA, im militärischen Bereich. Diese Hegemonie ist durch Allianzen vor allem der USA unter anderem mit Japan und Südkorea sowie Ländern in Westasien auch ausserhalb des Atlantiks zementiert worden. Die Vormachtstellung des Westens findet sich auch im UNO-Sicherheitsrat, also dem Gremium, welchem über die legale Anwendung von Gewalt zu entscheiden obliegt. Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates, welche über ein Vetorecht verfügen, sind deren drei NATO-Staaten (USA, GB und FR, neben RU und China).
Die globale Finanzarchitektur ist auf der amerikanischen Währung US-Dollar aufgebaut. Der Dollar ist zugleich die dominierende Reservewährung, der Währungsanker für viele Währungsräume, sowie die wichtigste Handelswährung und das «Rückgrat» der Finanzmärkte. Zentralbanken, die über die Währung eines bestimmten Währungsraums wachen, halten grosse Mengen an Dollarreserven, um ihre eigenen Währungen zu stabilisieren und um internationale Zahlungen zu erleichtern. Über die sogenannte Dollarbindung sind die Währungen zum Beispiel von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Hongkong an den US-Dollar gekoppelt. Länder wie Panama, Ecuador und El Salvador haben den Dollar vollständig als Währung übernommen. Dabei ist es die amerikanische Federal Reserve, die als Zentralbank den Dollar massgeblich beeinflusst und so nicht nur das amerikanische, sondern das globale Finanzsystem beeinflusst. Erwähnenswert ist, dass – entgegen einer weit verbreiteten Annahme – die Zentralbank nicht bloss selbst die Währung nicht ausschliesslich selbst ausgibt, sondern dies zu einem grossen Teil via Kreditvergabe durch des Bankensystems (im sogenannten Teilreservesystem) geschieht und von den Zentralbanken nur indirekt mitreguliert wird.
Ein bedeutender Teil des internationalen Handels wird über den Dollar abgewickelt. Wer Ressourcen wie Erdöl kaufen will, hat dies über viele Jahrzehnte vorwiegend in US-Dollar tun müssen. Aufgrund des sogenannten Petrodollar-Arrangements, demzufolge insbesondere Saudi-Arabien im Austausch für militärische Unterstützung der USA sein Erdöl ausschliesslich in Dollar verkauft, sind Erdöltransaktionen lange Zeit grösstenteils in US-Dollar abgewickelt worden. Dies hat wiederum den Druck auf alle Länder erhöht, Dollarreserven zu halten, was die Nachfrage nach Dollar hochgehalten und dessen Rolle als globale Reservewährung gestärkt hat. So haben Entscheidungen der amerikanischen Zentralbank Federal Reserve über Leitzinssätze oder das Einpumpen von Liquidität in die Finanzmärkte weltweite Auswirkungen.
Viele internationale Anleihen und Kredite werden in Dollar ausgegeben. Sowohl staatliche als auch private Schuldtitel sind oft in US-Dollar denominiert, wodurch das ganze globale Finanzsystem stark mit dem Dollar und somit mit den Machtzentren des Westens verbunden ist. Das «exorbitante Privileg» (exorbitant privilege), den für die weltweite Wirtschaft fundamentalen Dollar zu steuern, liegt also in den USA. Da diese den Dollar buchstäblich per Tastenklick am Computer «drucken» können, gab es bislang keine ernsthaften Konsequenzen für die rapide steigende Staatsverschuldung der USA, die sich auf hohe Billionenbeträge («trillions» auf Englisch) summiert. So vermögen die USA via das exorbitante Privileg der Dollarregulierung auch hausgemachte Probleme als Inflation, Wechselkursrisiken und wirtschaftliche Unsicherheit in die weite Welt zu exportieren, ohne dafür wie andere Staaten zur Verantwortung gezogen zu werden.
Noch immer werden Finanztransaktionen weltweit in der Grössenordnung von 80% in den beiden Finanzzentren der Anglosphäre – ungefähr 55% an der Wall Street in New York, 25% in der Londoner City – getätigt. Dadurch, dass ausserdem viele internationale Zahlungssysteme und Überweisungsnetzwerke auf den US-Dollar ausgerichtet sind, verfügen die USA über grosse Macht, finanzielle Sanktionen auszusprechen. Sie können staatliche Akteure, Firmen und auch Individuen vom globalen Finanzsystem ausschliessen oder den Zugang zu diesem erheblich erschweren. Derzeit stehen ein Drittel aller Länder, darunter 60% aller armen Länder, unter einer Form von amerikanischen Sanktionen. Das stark sanktionierte Land Kuba beispielsweise steht unter einem weitgehenden Embargo der USA, also einem Import- und Exportverbot sowie weiteren Sanktionen, gegen welches sich die UNO-Generalversammlung jährlich mit Voten von etwa 185 gegen 1 (die USA) stellt.
Grosse wirtschaftliche Macht geht auch von multinationalen Unternehmen mit Hauptsitz in westlichen Ländern aus. Gemessen an der gesamten Marktkapitalisierung (ca. 100 Billionen US-Dollar) machen die börsenkotierten Unternehmen der USA etwa 50-60% und diejenigen aus Europa etwa 15-20% aus, was zusammen fast drei Vierteln entspricht. Auch in Bezug auf globale Auslandsdirektinvestitionen (ca. 40 Billionen US-Dollar) beträgt der Anteil aus den USA etwa 25% und derjenige aus der EU etwa 20%, was zusammen knapp die Hälfte ausmacht. Das globalisierte Kapital – und speziell das Finanzkapital – operiert also zu einem grossen Teil vom Westen, insbesondere von den USA, aus.
Damit einher geht auch die technologische Vorherrschaft des Westens, vor allem von amerikanischen Tech-Unternehmen. Amazon, Apple, Facebook und Google sind in vielen Bereichen nahezu Monopolisten. Der öffentliche Online-Diskurs in Ländern wie der Schweiz wird fast ausschliesslich auf amerikanischen Plattformen geführt. Ausserhalb von China, das sich unter anderem dank Schutz durch den «Grossen Firewall» ein von amerikanischen Techmonopolisten unabhängiges eigenes digitales Ökosystem aufgebaut hat, steht fast die ganze Welt technologisch im Bann der USA. Europa wie auch Japan verfügen über vergleichsweise sehr wenige digitale Unternehmen mit globaler Reichweite. In anderen Bereichen, wie beispielsweise dem Flugzeugbau, haben sich viele Jahrzehnte das amerikanische Unternehmen Boeing und das europäische Unternehmen Airbus den globalen Markt aufgeteilt. Erst vor kurzem ist mit dem chinesischen COMAC ein potentieller Konkurrent hinzugekommen, der das Duopol (etwa 90%) der beiden westlichen Unternehmen in Frage stellen könnte. Vor wenigen Jahren hat hingegen Japan sein Projekt für ein Regionalflugzeug – den Mitsubishi Regional Jet – auf Eis gelegt.
Die technologische Führungsrolle respektive Vorherrschaft des Westens geht Hand in Hand mit militärischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Hegemonie. Nicht nur stärkt technologische Innovation wirtschaftliches Wachstum und militärische Entwicklung, sondern sie ermöglicht geopolitischen Einfluss auch durch das Bestimmen von globalen Standards wie Internetprotokollen, Telekommunikation und Cybersecurity, wie auch im Hinblick auf neue Technologien wie «Künstliche Intelligenz», Quantencomputing oder erneuerbare Energien. Neben der «harten Macht» (hard power) in Bezug auf Wirtschaft und Militär geht technologische Dominanz auch mit «weicher Macht» (soft power) im kulturellen Bereich einher. Die Kontrolle über digitale Plattformen erlaubt es, kulturellen Einfluss zu verbreiten und weltweite Trends zu setzen.
Im kulturellen Bereich schliesslich ist der Westen der Dreh- und Angelpunkt weltweit. Von der Filmindustrie im kalifornischen Hollywood in den USA über die olympischen Spiele mit Sitz in Lausanne bis zum mehrheitlich von der schwedischen Akademie der Wissenschaften betreuten Nobelpreis geht viel weltumspannende kulturelle Aktivität vom Westen aus.
Während zum Beispiel Fussball ein Stück weit wirklich global geworden ist, finden im Tennis von den vier wichtigsten Turnieren deren drei in der erweiterten Anglosphäre (London, New York und Melbourne) und eines in Paris statt. Dies erlaubte beispielsweise den Londoner Organisatoren des prestigeträchtigsten Tennisturniers, des Grand Slams in Wimbledon, im Jahr 2022 die Tennisprofis aus Russland (und aus Weissrussland!) auszuschliessen, um ein geopolitisches Zeichen zu setzen. Was immer man davon halten mag, dieser Vorfall spiegelt die durchaus unipolare Situation auch in diesem Bereich, und sieht einem imperial-zentralisierten Unterhaltungssystem nicht unähnlich.
Allgegenwärtig in so vielen Lebensbereichen rund um die Welt ist schliesslich die englische Sprache, und ebenso das römische Alphabet. Die «Anglosphäre» und das Englische, welches ich oben bereits die global-imperiale Lingua franca genannt habe, verdienen weiter unten noch eine detailliertere Abhandlung.
Das Konglomerat von den oben beschriebenen einflussreichen Kreisen wird von Kritikern manchmal als Globalismus oder die Globalisten bezeichnet. Interessanterweise wird dabei selten herausgestrichen, dass es sich, wenn schon, um im oder aus dem Westen operierende Globalisten, also um West-basierten – oder Anglosphären-basierten – Globalismus, handelt.
Um die Existenz respektive die Rolle der sogenannten Globalisten zu besprechen, wird es nötig, die innere Funktionsweise des Westen genauer anzuschauen. Davor noch steht an, die entstehende multipolare Weltordnung und ihre Hintergründe zu besprechen. Mehr wird jedoch noch zu sagen sein bezüglich Ausmass und Art des Einflusses, der von Teilen des Westens ausgeht.