Westliche Funktionsweisen – «liberal» und «demokratisch»?
Der Westen als zeitgenössisches Gebilde (Auszüge aus «Wir und der Westen», 10/11)
Auszüge aus Wir und der Westen:
→ 1/11 Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
→ 2/11 Das antike Griechenland als Schlüsselreferenz – nicht nur für den Westen
→ 3/11 Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
→ 4/11 Die Entstehung der Schweiz inmitten des Westens
→ 5/11 Westliche Expansion und imperiale Kontinuität
→ 6/11 Der Westen in der Neuzeit – Das Mass fast aller Dinge
→ 7/11 Der Westen in der Weltordnung
→ 8/11 Unipolar-hegemonial-transatlantisch gefärbte und verzerrte Perspektiven
→ 9/11 Rahmenerzählung und Realität im unipolaren Augenblick
Was charakterisiert die heutigen «westlichen Gesellschaften»? Weithin lautet die Antwort «Freiheit und Demokratie», vom Selbstverständnis westlicher Eliten bis hin zum kritischeren Emmanuel Todd. Westliche Gesellschaften seien freiheitliche, also liberale, Demokratien. Es lohnt sich genauer hinzuschauen, inwiefern sie dies wirklich sind.
Über die letzten Jahrzehnte des unipolaren Augenblicks – und vielleicht speziell für meine Generation, welche zu Beginn der Unipolarität gross geworden ist und nichts anderes je kennengelernt hat – war es nicht unüblich, an die Vision von einer einzigen integrierten, globalen, liberalen und demokratischen, Zivilisation zu glauben. Dies beinhaltete sowohl, dass wir selbst – der Westen – dem Ideal einigermassen entsprachen, und dass das Ideal auf alle anderen anzuwenden wäre. Alle anderen wären demnach in ihrer Unzulänglichkeit noch hinter diesem Ideal zurückgeblieben und hätten es noch nicht zu erreichen vermocht.
Dies war die Weltsicht des unipolaren Augenblicks westlicher Hegemonie. Leider Gottes gründete diese Weltsicht mehr auf unserem eigenen Wunschdenken, oder gar unseren Wahnvorstellungen, als auf der Realität. Viele von uns sind dem Ideal nachgehangen, und haben unsere eigene Propaganda diesbezüglich geglaubt. Unterdessen ist einiges an Unbehagen entstanden, doch kaum Klarheit darüber, was dieses Unbehagen verursacht hat. Inwiefern war es das Ideal selbst, oder die Umsetzung des Ideals, oder aber der Umfang des Anwendungsbereiches für die Umsetzung des Ideals?
Wie oben ausgeführt, dünkt mich selbst das Ideal nach wie vor nobel und erstrebenswert, zumindest für die Schweiz, und wahrscheinlich auch für den Westen als Ganzes. Inwiefern es das für den Rest der Welt ist, sollte dem Rest der Welt überlassen werden. Bedauerlicherweise hat sich der reale Westen als nicht auf der Höhe erwiesen, sich verantwortungsvoll für die Förderung unserer Ideale einzusetzen, weder im Innern noch im Äussern. Hegemonial-imperiales Demokratieaufrechterhalten ist ein Trugschluss, ein Oxymoron, ein selbstdienliches Konzept, das missionarischen Eifer und machttechnischen Eigennutz verbindet, und unter ständiger Beweihräucherung die westlichen Bevölkerungen eingelullt und zu Komplizen gemacht hat.
Vor dem Hintergrund der vielen Verfehlungen der letzten Jahrzehnte sollten wir uns strikt an den völkerrechtlichen Rahmen und die Souveränität jedes Landes respektive Volkes halten, und von der UNO nicht abgesegnete unilaterale Sanktionsregimes und ähnliche Handlungen lassen. Bevorzugterweise würde der Westen dies tun, solange noch ein Hauch moralischer Autorität in Teilen der Welt vorhanden ist, und nicht erst, wenn die letzten Resten dieser Autorität verloren gegangen und die multipolare Weltordnung eine aufgedrängte Realität geworden ist.
Sowohl das Ideal von Freiheit und Demokratie selbst, als auch dessen Umsetzung, sowie der Umfang des Anwendungsbereiches für seine Umsetzung, sind eine Diskussion wert. In der Umsetzung des Ideals innerhalb des Westens selbst hat es grosse Mängel gegeben, die Änderungen bedürfen. Und – wichtig für die Welt – der Anwendungsbereich muss überdacht werden, vom weltweiten Missionieren zum moderaten Wiederfinden einer wirklich freiheitlich-demokratischen Identität, welche global inspirieren mag, sich aber weder mit Predigten noch mit Waffengewalt der Welt aufdrängt. Ich möchte uns Westlern nahelegen, uns zuerst auf die Realisierung des freiheitlich-demokratischen Ideals bei uns selbst zu konzentrieren und uns vom Missionieren in der Welt zurückzuziehen, und uns unserem Platz als einem unter vielen gemäss in die Welt einzugliedern. Nach wiederhergestellter moralischer Integrität als Zivilisation, mit dem Einverständnis der globalen Mehrheit, können wir gerne wieder aktiver mitspielen.
Worin bestehen nun also die heutigen westlichen Gesellschaften? Ich will versuchen, einige der mir am zentralsten scheinenden sozio-ökonomischen Aspekte und sozio-politischen Aspekte zu beleuchten. Dabei scheint mir eine kritische Perspektive interessanter als eine lobhudelnd-konservative, ich will aber trotzdem positive Aspekte weder unterschlagen, noch kleiner machen, als sie sind.
Wirtschaft im tiefstmöglichen Sinn betrifft die materielle Lebensgrundlage aller Mitglieder einer Gesellschaft. Jede Gesellschaft, zu jeder Zeit in der Geschichte, hat sich darum kümmern müssen, Nahrung, Kleidung, Obdach und Ähnliches zu produzieren und zu verteilen, respektive zur Verfügung zu stellen. Wie dies geschieht, unterscheidet sich stark von Gesellschaft zu Gesellschaft und von Epoche zu Epoche.
In heutigen westlichen Gesellschaften wird ein Teil dieser Aufgaben von der öffentlichen Hand – dem Staat – orchestriert, reguliert und ausgeführt, die Mehrheit aber von privaten, gewinnorientierten Unternehmen. Ein Teil der Infrastruktur wie Wasserversorgung und Strassen wird in der Regel vom Staat, der sich seinerseits mehrheitlich durch Steuereinnahmen finanziert, gebaut und aufrechterhalten. Demgegenüber wird Produktion und Verteilung von Gütern grundsätzlich dem sogenannten «freien Markt» überlassen, sprich kleinen und grossen Firmen, die den Leuten als Konsumenten diese Güter für Geld verkaufen.
Länder unterscheiden sich darin, inwiefern sie wirtschaftliche Aktivität in der öffentlichen Hand belassen und inwiefern sie diese in die Hände privatwirtschaftlicher Akteure geben. Vom Erziehungssystem über die Bahninfrastruktur bis zur Energie gibt es Länder mit eher öffentlichen, und andere mit eher privat geführten Systemen. Während im öffentlichen Bereich neben der Wirtschaftlichkeit politisch – potentiell gesamtgesellschaftlich und demokratisch – entschiedene Leitlinien und Ziele verfolgt werden, ist in der Privatwirtschaft das Gewinnmotiv zentral, schliesst aber das Verfolgen anderer Ziele nicht unbedingt aus. In jedem Fall scheint noch wichtiger als das Verhältnis, wieviel Wirtschaftsaktivität privat respektive öffentlich getätigt wird, die Art und Weise, wie dies geschieht. Entscheidend ist, nach welcher Logik eine Gesellschaft und eine Wirtschaft funktioniert, und welche Prinzipien, Werte, Normen und Ziele in ihnen zur Geltung kommen. Wie all dies ausbalanciert werden sollte, steht im Kern der allermeisten politischen Alltagsdebatten.
Von der Perspektive der Individuen aus gesehen ist es so, dass diese für sich selbst – sei es als Familie oder allein – verantwortlich sind. Es ist dies der Kern des wirtschaftlichen Liberalismus. Konkret hängt die wirtschaftliche Existenz der allermeisten Familien und Individuen daran, dass mindestens jemand einer Erwerbstätigkeit nachgeht. Man wird von einer Firma oder sonstigen Organisation angestellt, arbeitet ein paar Dutzend Stunden pro Woche, und erhält dafür Lohn. Von diesem Geld kauft man das Lebensnotwendige und wozu es sonst noch reicht. Diese Abhängigkeit zur Erwerbsarbeit scheint mir das allerwichtigste Grundelement unserer Gesellschaften zu sein. Es wird genauso wenig hinterfragt wie die Zentralität des Profitmotivs, die Wichtigkeit von privaten Firmen, und die Funktionsweise des Finanzwesens (auf welches noch zurückzukommen ist).
Ausnahmen von der beschriebenen existenziellen Grundsituation sind einige vermögende Menschen, für welche dazu keine existentielle Notwendigkeit besteht, sowie Personen, die auf dem «freien Arbeitsmarkt» nicht florieren können, für welche die Gesellschaft, respektive der Staat, gewisse soziale Sicherungssysteme vorgesehen hat. Diese reichten im Frankreich der Nachkriegszeit vom Anspruch totaler sozialer Sicherheit und der politischen Priorität der Vollbeschäftigung bis zu mehr oder weniger breit aufgestellter Unterstützung für Leute mit Schwierigkeiten, sich in diesem System zurechtzufinden. Einer Minderheit schliesslich gelingt es, anstelle vom Angestelltensein sich selbstständig zu machen.
Während sich die konkreten Arbeitsbedingungen und die Ansprüche entwickelt haben, zum Beispiel in Form von bezahlten Ferien und Wochenenden, wird das Anstellungsverhältnis an sich oft als simple Tatsache akzeptiert. Tatsächlich handelt es sich bei Erwerbsarbeit und Anstellung um das vielleicht strukturierendste Element unser aller Leben. So rosig man dies beschreiben mag, sei es als notwendige oder als alternativlose Sache, so einleuchtend ist es, dass man sich die Frage stellt, wie dies mit Phänomenen wie Missbrauch, Entfremdung, Ausbeutung und Sinnlosigkeit in Zusammenhang zu bringen ist.
Zwar kann es einleuchten, Arbeit und Anstrengung an sich als ethische Verpflichtung eines jeden Menschen zum eigenen Überleben und als Beitrag zur Gemeinschaft zu sehen. Arbeit und Anstrengung in sinnentleertem Zusammenhang für Hungerlöhne nachzukommen hingegen ist sicher nicht etwas, das man mit gutem Gewissen einem Menschen grundsätzlich zumuten will.
Ist all dies im Ergebnis recht gut, oder immerhin nicht schlecht, oder sollte und könnte alles viel besser sein? Ist das Ausmass und die Verteilung von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ängsten in Ordnung so? Die Meinungen zur heutigen sozio-ökonomischen Situation reichen von wohlstandsverwahrlost einerseits bis menschenunwürdig andererseits. Einmal mehr, was ist vom wie es ist zu halten, angesichts dessen, wie es sein sollte und wie es sein könnte? Der Phantasie und der Gesellschaftstheorie sind keine Grenzen gesetzt.
Dass das Anstellungsverhältnis und die Aufteilung in Fachbereiche für Firmen effizient und für die Gesamtgesellschaft von gewisser Funktionalität sein mag, ist nachvollziehbar. Und doch ist nicht sicher, dass es auch von solchen Gesichtspunkten aus das wünschenswerteste Modell darstellt. Vom Standpunkt liberaler Werte wie Selbstverwirklichung und intrinsischer Motivation aus gesehen jedenfalls ist unser Gesellschaftsmodell nicht für alle optimal. Für einige bietet es Chancen, für andere weniger. Während einige im Alter von fünfzehn, und manchmal zwölf, die entscheidenden Weichen gestellt bekommen, sind andere im doppelten Alter noch unentschlossen, welche Wege sie gehen wollen. Alles in allem gibt es kaum etwas, was es nicht gibt.
In der deutschsprachigen Welt geht man im Prinzip einem «Beruf» nach. Bereits als Kind wird man gefragt, was man werden wolle. Gemeint ist ein Beruf, eine spezifische Beschäftigung, ein Fach, welches man erlernt und dann im Regelfall in einem Anstellungsverhältnis für eine Firma in Lohnarbeit umsetzt. Drei Viertel der Jugendlichen absolvieren in der Schweiz eine berufliche Ausbildung. In anderen Ländern ist der Weg der akademisch-schulischen Erziehung oder Ausbildung etwas verbreiteter als hierzulande.
Etwas zu lernen und Fachkenntnisse zu erwerben, um etwas zum Wohl der Gesellschaft beizutragen und für sich selbst zu sorgen, ist ein nachvollziehbares Prinzip. Umstrittener ist, ob die Art von Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern innerhalb des gegenwärtigen Wirtschaftsmodells das ansprechend umsetzt. Zumindest würde mich relevant dünken, dass es ein Bewusstsein dafür gäbe, dass man seinen Beruf nicht in einem harmlosen sozialen Vakuum auszuführen hat, sondern dass dies innerhalb von definierten Beziehungsprofilen und Abhängigkeitsmustern stattfindet. In jedem Fall sind die Grundpfeiler der Wirtschaftsordnung wesentlich, und sollten benannt werden, wie ich es gleich versuchen werde.
Einiges wäre noch zu sagen zu den Details der Ähnlichkeiten wie der Unterschiede der westlichen Gesellschaften in Bezug auf ihre sozioökonomischen Arrangements. So verfügen alle Länder, mit Ausnahme der USA, über ein universelles Gesundheitssystem, sei dies wie die Schweiz via die gesetzliche Verpflichtung zu einem staatlich festgelegten Grundkatalog von Leistungen via private Krankenkassen, oder, wie viele europäische Länder, via ein allgemeines öffentliches, steuerfinanziertes System. Höhere Ausbildung ist in manchen Ländern ganz oder fast ganz öffentlich finanziert, und in anderen systematisch an hohe Gebühren und oft an Darlehen geknüpft, welche über viele Jahre zurückgezahlt werden müssen. Arbeitsverträge sind manchmal leicht kündbar, manchmal durch starke Gesetzgebung vor Kündigung geschützt, und Arbeitslosigkeit ist manchmal von grosszügigen und manchmal von minimalen Arbeitslosigkeitsversicherungen abgedeckt.
Das vielleicht wichtigste gemeinsame Phänomen westlicher Gesellschaften ist, dass in den «glorreichen» Jahrzehnten der Nachkriegszeit («les trente glorieuses») eine breite Mittelklasse entstanden ist. Ein einigermassen bürgerlicher Lebensstil mit Zugang zu gewissem Wohlstand, Ferien, Freizeit sowie Freizeitbeschäftigungen hat sich auf einen recht grossen Teil der Bevölkerung ausgeweitet. Steigender Wohlstand begleitet von allgemeinen Krankenversicherungen, Rentensystemen und sozialen Sicherungssystemen haben dafür gesorgt, dass gewisse Grundstandards seltener mehr unterschritten worden sind.
Mit dem «neoliberalen Politikwandel» seit etwa den 1980er Jahren ist es dann die Tendenz geworden, die Wirtschaft verstärkt zu deregulieren und zu «liberalisieren». Dies hat bedeutet, dass öffentliche Dienstleistungen und Betriebe privatisiert, «Arbeitsmärkte» und andere «Märkte» dereguliert, und allgemein mehr «Marktrationalität», sprich unmittelbarere Profitorientierung und Kommodifizierung von vormals ausserhalb der profitbasierten Wirtschaftslogik stehenden Gütern, eingeführt worden sind. Ebenso wurde die «Arbeitskraft» stärker kommodifiziert durch erhöhte Entscheidungsfreiheit für Management und Besitzer anstelle von Mitspracherechten der Angestellten in Unternehmen, durch allgemein höhere Konditionalität und weniger Universalität beim Zugang zu Arbeitslosenversicherung und anderen sozialen Sicherungssystemen, sowie allgemein durch eine Tendenz zur Übertragung von Risiken von der kollektiven Verantwortung hin zu der des Individuums.
Auch hier wieder sind haufenweise Ansichten denkbar zwischen Wünschen nach mehr Solidarität einerseits und Unzufriedenheit wegen als exzessiv wahrgenommenen Verantwortlichkeiten der Allgemeinheit andererseits. Ob sich zum Beispiel arme Leute aus eigener Schuld und Faulheit in prekärer Situation befinden und niemand ihnen gegenüber in Verpflichtung steht, oder aber dadurch, dass Wirtschaftssystem und -politik systematisch Disparitäten und soziale Härten hervorrufen, und daher auf jedem Fall unzulässig sind, sind unterschiedliche Einschätzungen der Situation. In Realität befinden wir uns in einem Kompromiss, und politische Koalitionen ziehen mal in diese und mal in jene Richtung. Unbestritten sollte aber sein, dass die westlichen Gesellschaften der Nachkriegszeit, mit ihren Mischung von liberalen, sozial-demokratischen und konservativen Elementen, über die letzten Jahrzehnte liberaler respektive neoliberaler geworden sind.
Die ursprünglichen Äusserungen dieser Neoliberalisierung sind in der anglo-amerikanischen Welt festzumachen. In etwa unter dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher in den 1980er Jahren nahmen die oben beschriebenen Tendenzen Fahrt auf und begannen sich auf den Rest der westlichen Welt und darüber hinaus auszudehnen. Sie gingen unter anderem mit der Deregulierung des Finanzwesens einher und einer allgemeinen «Finanzialisierung».
Der Industriekapitalismus der Nachkriegszeit wandelte sich in Finanzkapitalismus, und die wirtschaftliche Aktivität wurde «finanzialisiert». Unternehmen wie beispielsweise das amerikanische General Electric machten nunmehr grössere Gewinne durch Finanzaktivitäten als durch die Herstellung von Gütern. Anstelle der ursprünglichen Produktions- und Industrieaktivitäten traten Kreditvergabe und Darlehensgeschäfte, Versicherungs- und Vermögensverwaltung, Verbriefung und Finanzinstrumente verschiedenster Art in den Vordergrund.
Ausgehend von den USA und Grossbritannien, sprich der City von London und der Wall Street in New York, wurden die FIRE-Sektoren – Finanzwesen, Versicherungswesen und Immobilien (Finance, Insurance, Real Estate) – zu den lukrativsten Wirtschaftsbereichen. Investitionen respektive Spekulationen mit Immobilien, dazu Fusionen und Übernahmen von Unternehmen, und Praktiken wie Aktienrückkäufe sowie schwer überschaubare – Derivate genannte – Finanzinstrumente (wie Optionen, Futures oder Swaps) zur Absicherung von Investitionen, welche aber auch ihrerseits zu Spekulation verwendet werden können, verwandelten die westlichen Volkswirtschaften in ein regelrechtes Finanzcasino, mit Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes. All dies führte zu verstärktem Fokus auf kurzfristige Gewinne, etwa durch steigende Aktienkurse oder Kosteneinsparungen, aber auch zu mehr Druck auf die Angestelltenschaft und den «Arbeitsmarkt», und entfernte den Fokus von langfristigeren und ausserhalb der finanziellen Blase produktiven Investitionen.
Überlagert und angetrieben wurde all dies vom Dogma des «freien Marktes». Dieser Marktfundamentalismus besagte, dass unregulierte Märkte als Ressourcenverteilmechanismus und überhaupt als allgemeine Problemlösungsformel für nahezu alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten die beste Lösung wären.
Diese Denkweise krankt jedoch daran, dass sie in ihren Grundannahmen fehlgeht, dass sie nichts mit der realen Welt zu tun hat und zu tun haben kann, und dass sie also einer tendenziösen politischen Ideologie gleichkommt. «Freimarktideologie» stellt sich die wirtschaftliche Sphäre als weder politisch noch gesellschaftlich konstituiert vor, also als Anhäufung von Individuen, welche durch eindimensionale Motivationen angetrieben wären und dementsprechend unidimensional handeln würden, und welche darüber hinaus gutunterrichtet und informiert wären.
All dies hat aber wenig mit der realen Welt zu tun. Es ist im Kern eine Ideologie, welche Deregulierung und ähnliche Schritte zu rechtfertigen vorgibt, jedoch ohne jegliche Substanz, wie man beim genaueren Hinschauen feststellt. Die Theorie tut nämlich nicht einmal das Notwendige, um als valide und potentiell plausible Theorie ernstgenommen zu werden. Anders als die Marktreligion es vorschlägt, nämlich alle Hindernisse für freie Märkte zu entfernen, ist in der wirklichen Welt einzig relevant, nach welchen Normen und in welcher Koordinierungslogik in der Wirtschaft agiert wird.
So zu tun, als gäbe es, je mehr man sich der Utopie der freien Märkte annähern würde, keinerlei solcher Logiken und Normen, und andererseits zu behaupten, der imaginierte «freie Markt» würde eine solche Logik und Norm darstellen, welche überdies irgendwie besser wäre, ist unredlich. All dies stellt demnach nichts weiter dar, als ein Propagandainstrument für diejenigen, welche von den angewandten – obenerwähnten Schritten – profitieren.
Bedenkenswert ist, dass diese Doktrinen und Axiome zum Grundstock dessen gehören, was noch heutige Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern eingetrichtert bekommen haben. Kritische Geister unter ihnen haben die vielen Schichten von unhaltbaren Annahmen teilweise hinterfragt, sich aber nur in seltenen Fällen völlig davon emanzipiert. Getarnt als «liberal», also als freiheitlich, mit Bezugnahme auf einen der höchstgeachteten Werte im ganzen Westen, konnte diese Art des falsch-ideologischen Wirtschaftsliberalismus sich jahrzehntelang durchsetzen.
Mit dem Feindbild des dem guten freien Markt gegenübergestellten bösen Staates sind ach so viele Denker in falschen Dichotomien steckengeblieben. Wo doch weder «der Staat» noch «der Markt» in sich gut noch böse sind, sondern allein entscheidend ist, welche Normen und Werte im wirtschaftlichen Geflecht Achtung erfahren.
Vom «Washingtoner Konsens» (Washington Consensus) angetrieben wurden Länder in den 1980er und 1990er Jahren aufgefordert, «marktorientierte Politiken» durchzuführen. In Washington ansässige Akteure rund um den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Weltbank und das US-Finanzministerium forderten speziell die lateinamerikanischen Staaten auf, Zinsen und Handel zu liberalisieren, sich für ausländische Direktinvestitionen zu öffnen, und staatliche Unternehmen zu privatisieren. In der «Asienkrise» 1997 führten die volatilen Kapitalströme zum Beispiel in Thailand zu einem Zusammenbruch der lokalen Währung, zu Aufbau und Platzen von spekulativen Blasen und damit zu massiven wirtschaftlichen Verwerfungen.
Das globalisierte – jedoch mehrheitlich im Westen, respektive in der Anglosphäre, «beheimatete» – Finanzkapital ist der zentrale Akteur in den sogenannt freien Märkten. Seine Interessen sind überwiegend die Gewinn- und Renditenmaximierung, und zu dem Zweck durch Einschränkung der Konkurrenz und durch Monopolisierung Marktmacht zu erzielen, und eine genehme Gesetzgebung, Rechtsprechung und Medienberichterstattung zu erreichen.
Zusätzlich zur oben erwähnten Verzerrung der Weltsicht, welche in der heutigen geopolitischen Landschaft zu erwarten wäre, ist analog dazu geoökonomisch eindeutig eine Färbung zu erwarten, welche die Interessen dieser Gruppen und Akteure spiegelt. Als «die Märkte» genannte Kraft stellen Eigentümer und Kontrolleure des globalen Finanzkapitals eine Macht dar, die – wie Noam Chomsky es einmal nannte – einem «virtuellen Senat» gleichkommen, welcher stets über allem schwebt und gegen dessen Interessen anzukommen eine grosse Herausforderung ist. Die Hauptgruppen sind sogenannte «institutionelle Investoren» wie Investmentfonds, Pensionsfonds, Hedgefonds und Versicherungsgesellschaften, dann weiter multinationale Konzerne, grosse Privatbanken und Investmentbanken, Vermögensverwalter wie Blackrock, Vanguard und State Street, sowie superreiche Einzelpersonen, aber auch Zentralbanken und Finanzaufsichtsbehörden.
Die Reichweite und der Einfluss der erwähnten Vermögensverwalter lohnt sich im Detail auf der Zunge zergehen zu lassen. Blackrock und Vanguard verwalten je ungefähr zehn Billionen US-Dollar und sind oft die grössten Aktionäre in vielen der weltweit führenden Unternehmen mit typischerweise zusammengerechnet 15-20% der Anteile. Durch ihr Mitspracherecht haben sie erheblichen Einfluss auf die Unternehmensführungen, und spielen auch eine Rolle bei der Gestaltung von Regulierungen und politischen Entscheidungen.
Wenn man etwas zu Essen in einem Supermarkt konsumiert, ist die Wahrscheinlichkeit beträchtlich, dass das Produkt von einer Marke stammt, welche erstens zu einem der grossen multinationalen Konzernholdings gehört – Nestlé, Unilever, Kelloggs, Cocacola, Pepsico, Mondelez und ein paar weitere kontrollieren die meisten Marken und Produkte direkt oder indirekt – und zweitens auf einer höheren Stufe durch die erwähnten Investoren kontrolliert werden.
Der real existierende freie Markt ist Welten entfernt vom – wenn auch unkohärent theorisierten – imaginierten Ideal des freien Marktes. Er ist voller Konzentration von Eigentum und Marktmacht, und damit verbundenen Phänomenen wie politischer Einflussnahme, exzessiven Vermögens- und Einkommensungleichheiten, prekären Beschäftigungsverhältnissen und Ausbeutung der Angestelltenschaft, sowie strukturell vorhandenen Aspekten wie Marktvolatilität und Finanzkrisen, kurzfristigem Denken und allerhand beschwichtigend «Externalitäten» genannten negativen «externen» Effekten.
Im Kern des Wirtschaftssystems steht darüber hinaus die Logik des Kapitalismus. Unsere Gesellschaften haben die wirtschaftlichen Grundfunktionen an die Akkumulation von Kapital gekoppelt, wie es der deutsche Soziologe Wolfgang Streeck formuliert. Indem wir unsere materielle Versorgung mit der privaten Akkumulation von Kapital verknüpft haben, welche in Geldeinheiten gemessen und durch – in Theorie – freien vertraglichen Austausch auf Märkten gehandelt und von individuellen Nutzenberechnungen angetrieben werden, sind wir im Kern für unsere Existenz vom erfolgreichen Aufbau von privat angeeignetem Kapital abhängig.
Die heute real existierende Art von Kapitalismus hat es überdies an sich, zur Expansion in sämtliche Bereiche der menschlichen Lebenswelten hinein zu tendieren. Nicht nur führt er dazu, dass alles wirtschaftliche Handeln seiner Logik gemäss vollzogen wird, sondern er dringt auch in andere Lebensbereiche ein – es sei denn, er wird durch politischen Widerstand und Regulierung eingegrenzt.