Mein Buch Wir und der Westen erscheint offiziell in zehn Tagen – am Ostermontag (21APR2025). In der Zwischen- und Wartezeit veröffentliche ich hier noch diesen “Bonusauszug”.
Es gibt im ganzen Westen, einschliesslich der Schweiz, schwer Sagbares. Es gibt Dinge, welche zu sagen einem Stigma und öffentlichem Sanktionsdruck unterworfen ist. Wie bereits erwähnt scheinen mir gewisse Einrahmungsmechanismen durchaus Teil einer gesunden Gesellschaft. Die Frage ist, ob diese Mechanismen richtig und gut funktionieren. Weiter oben habe ich bereits meine Überzeugung dargelegt, dass – wie es eigentlich zu erwarten wäre – die umfassendste Rahmenerzählung und damit Hauptverzerrung unserer Zeit in der unipolaren liberal-imperialen Ideologie besteht, welche von einem transatlantisch zentrierten Machtgebilde herrührt. Der weiterführende Gedanke muss demnach sein, dass ein Risiko besteht, dass dieser Rahmenerzählung widersprechende Stimmen ungerechtfertigterweise marginalisiert und vom Diskurs ausgeschlossen werden.
Der Glauben, dass dem kaum so sein könne, sitzt bei vielen Leuten sehr tief. Es sollte nicht so sein, darf nicht sein, kann nicht sein. Aber ist es wirklich nicht so? Könnte es nicht doch fundierte Perspektiven geben, welche es nur schwer in die Medienlandschaft schaffen?
Ein erster Grund, stutzig zu werden, ist die Abwesenheit von Reflexion zum Inhalt meiner Grundthese bezüglich zu erwartender Verzerrung der Sicht auf die Welt. Sei es, dass ich selbst naiv gewesen bin, oder aber dass ich nicht genügend aufmerksam gewesen bin – die Idee einer unipolar-hegemonial-transatlantisch verzerrten Weltsicht ist mir jahrzehntelang nie begegnet. Gegeben die hier bereits dargelegten faktuellen Sachverhalte ist dies zumindest erstaunlich.
Natürlich kann es in jedem konkreten Fall immer wichtige dagegensprechende Sachverhalte geben, die es zu berücksichtigen gibt. Dass aber diese eigentlich zu erwartende Verzerrung nicht einmal als klar konzeptualisierte Vorstellung vorhanden ist, und nicht einmal als mögliche Lesart der Welt erwähnt wird, dünkt mich zutiefst erstaunlich. Dass sie darüber hinaus nie auch nur annähernd als kohärentes Ideengebilde dargelegt worden ist, in einem kontextualisierten und entfragmentierten Zusammenhang, lässt mich heute erschaudern.
Erschreckt hatte ich über das vergangene Jahrzehnt festzustellen, dass die Realität des öffentlichen Diskurses der zu erwartenden Verzerrung in nichts nachsteht. Dies erkennen und benennen zu können hat in meinem persönlichen Fall lange gedauert und viel gebraucht. Noch heute dünkt mich erstaunlich, wie schwierig es gewesen ist und immer noch ist, das eigentlich offensichtliche in den Ideen zusammenzuweben. Doch in der Tat kommt eine Anpassung an ein realistischeres Weltbild mit der Anpassung von Grundannahmen zur Welt und zum Westen zusammen. Dieses Buch ist nicht zuletzt auch ein Versuch, jahrzehntelang gehegtes Unbehagen in ein kohärentes Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Wahrheit zurück- und zurechtzurücken. Es ist also notwendig, die Runde zu machen, auf welche Abwesenheiten im Diskurs man stossen könnte.
Ich will zuerst anhand von ein paar Aha-Erlebnissen aufzeigen, wie sich mein Weltbild zur Anpassung gedrängt wiedergefunden hat. Es sind Beispiele, für welche ich rückblickend keine andere Erklärung finde, als die transatlantisch-unipolar-hegemonial verzerrte Weltsicht zusammen mit der Angst, mit dieser Weltsicht nicht konforme Ideen zu denken.
Ein erstes Beispiel ist Venezuela, wo ich vor bald 25 Jahren ein Austauschjahr verbracht hatte, und welches geopolitisch immer wieder in den Schlagzeilen gestanden ist. Wie immer man die durchaus komplexe Situation einordnet, auch hier ist frappierend, dass ich weder damals, noch über viele Jahre an der Universität Genf, je systematisch die Sichtweise angetroffen hatte, gemäss der sich Venezuela einem hegemonial-imperialen Gegenüber in Form der USA gegenübersah, welches via unilaterale Sanktionen sowie direkte und indirekte militärische Interventionen die Kontrolle der vorhandenen Rohstoffe anstrebte.
Während die Debatte um Demokratie und Freiheit gewiss relevant bleibt, ist diese sehr gut dokumentierte geopolitische Realität der letzten Jahrzehnte immer fundamental gewesen. Sie auszulassen – und, wie gesagt, sie nicht einmal zu erwähnen, und damit von der intellektuellen Pflicht, sie zu entkräften, auszunehmen – war eine ernsthafte Unterlassung. Man kann die Sachverhalte anders gewichten, aber diese spezifische Sichtweise, welche argumentativ valide und kohärent, auf Fakten gestützt, und sicher relevant war, wegzulassen, ist kaum zu rechtfertigen. Sie verdient es, zur Kenntnis genommen zu werden, und, falls es Probleme damit gibt, widerlegt zu werden.
Im unipolaren Augenblick der 1990er, 2000er und 2010er Jahre war unser Diskurs durchtränkt von selbstgerechten Annahmen, wonach «wir» als auf ethisch überlegene Werte gebaute und in der Realität ethisch überlegene Gesellschaften uns in der Welt einmischen dürften oder gar müssten. All diese Zeit stand die Selbstwahrnehmung und Propaganda von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten mit der Realität der imperial-hegemonialen Politik in Worten und Taten in Konflikt. Die Rahmenerzählung des Anglo-Amerikanischen und des Brüsseler Politikestablishments in Bezug auf Aussenpolitik war die ganze Zeit voller Verzerrung und Färbung. Vollumfängliche Vorherrschaft und Eindämmung von Konkurrenten sind stets massgebliche Ziele gewesen. Diese Tatsache nicht auszudrücken, und gleichzeitig die eigene Rolle in Bezug auf höhere Werte zu unterstreichen, hat den Horizont des Sag- und Denkbaren geprägt. Während viele Ebenen von Kritik möglich waren, ist ein grundsätzlicheres Infragestellen von Hegemonie und Unipolarität sehr schwierig gewesen.
Ein zweites eindrückliches Beispiel besteht in der Ausgestaltung des japanischen öffentlichen Diskurses in Bezug auf die amerikanische Militärpräsenz im Land. Wie in vielen Ländern gibt es auch in Japan nationalistische Kräfte, welche Vaterlandsliebe mit einem Wunsch nach militärisch-politischer Stärke verbinden. Anders als man erwarten könnte, ist dieser Wunsch jedoch selten begleitet von einem Ruf nach Selbständigkeit und Souveränität.
Während ersteres sehr wohl existiert im politischem Spektrum, ist letzteres völlig abwesend vom in etablierten Kreisen zulässigen Diskurs. Militärisches Aufrüsten und Wiederherstellen von militärischer Stärke scheint nur im Rahmen der asymmetrischen Allianz mit den USA denkbar. Innerhalb der regierenden Liberal-Demokratischen Partei (Jimintô 自民党), welche nach der Niederlage Japans im Krieg und der amerikanischen Besatzungsperiode im Jahr 1953 und dann 1960 das bis heute gültige Sicherheitsabkommen mit den USA ausgehandelt hatte, und welche mit kurzen Ausnahmen seither stets an der Macht gewesen ist, scheint Kritik an der amerikanischen Militärpräsenz nur begrenzt möglich.
So sind Sachverhalte wie die 50000 Soldaten starke Truppenpräsenz, oder etwa die Tatsache, dass ein Teil des Luftraums über der Metropolregion Tokio nicht von Japan, sondern von den USA kontrolliert werden, zwar bekannt, aber nur hinter hervorgehaltener Hand kritisch aussprechbar. Der allgemeine Diskurs auch an japanischen Eliteuniversitäten sowie in auf Englisch geführten «internationalen» Kreisen basiert überwiegend auf der Annahme, dass nicht die USA, sondern China, eine Bedrohung darstellen würde. Interessanterweise werden diese Prämissen niemals explizit und argumentativ ausgeführt, sondern implizit und einem Dogma gleich vorausgesetzt. Wer sich am Diskurs beteiligen will und in einflussreiche Positionen aufsteigen will, lernt, dass die US-Japan-Allianz und die US-Militärpräsenz zwar mit Stabilität und Sicherheit in Zusammenhang zu bringen sind, nicht aber mit Machtprojektion und den hegemonial-imperialen Zielen der Vorherrschaft.
Die Parallelen zu Deutschland erschliessen sich einem mit etwas Nachdenken. Das Problem ist, dass man auch sie kaum denken zu dürfen scheint. Extrem sanft hatte ich mich über lange Jahre an die Idee herangetastet, dass es in Deutschland vielleicht so etwas wie einen politischen Einfluss der USA geben könnte. Ram(m)stein war mir viel früher als Musikgruppe denn als amerikanischer Militärstützpunkt ein Begriff gewesen, auch noch als dieser in den 2000er Jahren als Koordinationspunkt für illegale Angriffskriege fungierte. Wieder ist das Erstaunliche, dass ich diese Ideen in mehr als zwei Jahrzehnten Leben niemals angetroffen hatte.
Gerne nehme ich die Verantwortung dafür auf mich, aber leider deutet viel darauf hin, dass meine Naivität allein nicht als Erklärung herhalten kann. Irgendwann wurde mir klar, dass es diese unipolar-transatlantisch-hegemoniale Tendenz gab, und die entsprechende kognitive Dissonanz dazu. Mit Freunden Militärstützpunkte in Deutschland anzusprechen löste Unbehagen aus, bei belgischen Doktoranden zu Einschätzung und Bewusstsein bezüglich NATO nachzufragen führte zu wenig, und ein erstes im Vertrauen mit einem guten Bekannten gewagtes kritisches Ansprechen der amerikanischen Rolle auf der Welt führte zu einem mahnenden Hinweis, es mit Anti-Amerikanismus besser nicht zu weit zu treiben.
Beim heutigen Wissensstand sollte aber nunmehr trivial sein anzumerken, dass es zwischen dem Propagandanarrativ und der realen Politik grosse Diskrepanzen gibt. Eine erhellende Anekdote dazu liefert Chat-GPT, das «Künstliche Intelligenz»-Modul, das auf die Frage nach der US-Truppenanzahl in Japan deren Präsenz in den Kontext von Sicherheit und Stabilität rückt. Auf die Nachfrage, wie diese Rahmenerzählung mit der explizit formulierten Doktrin der vollumfänglichen Vorherrschaft und der Eindämmungspolitik zusammengehe, gibt das Modul an, dass dies in der Tat der Kommunikationsnarrativ sei, und dass offensivere strategische Ziele darin weggelassen würden. Nach zweimal zusätzlichem Nachfragen, ob dies bedeute, dass die vorherige Antwort Propagandaanstrengungen widerspiegelt habe, und mit Verweis auf seinen Hinweis auf die Notwendigkeit, relevanten Kontext proaktiv anzugeben und auszuleuchten, räumt Chat-GPT ein, dass seine Aussagen zur US-Militärpräsenz in der Tat eine ausgeglichenere Darstellung verdienen würden. Würde es sich angesichts all dieser Umstände und Tatsachen nicht aufdrängen, zuallermindestens als eine mögliche Perspektive die Hypothese eines imperial-aggressiven Westens, oder zumindest der ihn anführenden Anglosphäre oder genauer zu definierenden Kräften, im Diskurs präsent zu haben?
Was sich immer wieder vorfinden lässt, sind spezifische Beispiele von Kritik beispielsweise an amerikanischer Aussenpolitik, oder an einer der amerikanischen Parteien, oder an gewissen als extremer dargestellten Kräften innerhalb westlicher Länder. Diese Kritiken führen aber im Normalfall nicht dazu, die Hypothese eines imperial-aggressiven Westens zum Ausgangspunkt der Analyse zu erheben. Ausgangspunkt bleibt die Annahme, dass der Westen Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verteidigen würde. Der Westen wird als die Guten angenommen. Auch noch so fundamentale Kritik kann diese Grundannahme nicht trüben.
Kommentatoren, welche diesen Ausgangspunkt nicht teilen, oder welche gar die gegenteilige Hypothese vorziehen, dass nämlich eher nicht davon auszugehen sei, dass der Westen in jeder neuen Situation die Guten wäre, befinden sich im Widerspruch zu unserer Grundmythologie. Tiefere Kritik an diesem Selbstbild ist für viele Menschen schwer zu ertragen. Eine Ajustierung wichtiger Teile des Weltbildes wäre dafür vonnöten. Und dies ist schwierig. Mit solchen Aussagen und Annahmen ins Establishment vorzudringen oder einen Platz darin einzunehmen ist praktisch unmöglich. Sobald man das Muster aber erkannt hat, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. Auch Italien und Südkorea geht es ähnlich – Militärstützpunkte, geopolitische Anbindung, Selbstdarstellung und -wahrnehmung verbunden mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten, in Realität diesbezüglich aber mehr oder minder mangelhafte Zustände.
Ein drittes und letztes Beispiel, welches ich aufschlussreich gefunden habe, war der Begriff des «Bürdenaufteilens» oder der «Lastenverteilung» (burden sharing). Der Begriff entstammt einem Unterfeld der akademischen Literatur im Feld der internationalen Beziehungen und bedeutet konkret die Teilnahme von verbündeten Ländern an amerikanischen Militäraktionen. Im Rahmen eines Methodenseminars der Sozialwissenschaften im Jahr 2014 brachte der amerikanische Professor ein Beispiel aus dieser Literatur, in der es darum ging, welche verbündeten Länder in welchen Militärkampagnen sich wie sehr beteiligt hatten.
Nach etwas Nachdenken verstand ich die problematische Annahme, die in diesen Begriff verpackt worden war. Last oder Bürde ist etwas, das zu tragen mit Verantwortung verbunden und also etwas Positives ist. Dies bedeutet wiederum, dass dasjenige, was als Bürde getragen wird, etwas Moralisches ist, oder zumindest etwas moralisch nicht allzu Verwegenes. Die Burdensharing-Literatur hat also mir nichts dir nichts, und argumentslos, positive Werturteile zum Forschungsgegenstand in die Grundannahmen eingeschleust. Wenn man über keine entsprechend wetterfeste Weltsicht verfügt, oder die implizit vorhandenen Grundannahmen nie einem Realitätstest hat unterziehen können, wird man dazu tendieren, diese Annahmen für wahrscheinlich zutreffend zu halten. Wo darüberhinaus der offizielle Diskurs und jener in den Medien diese Annahmen laufend wiederholen, wird sich ein Weltbild festigen, das auf unüberlegten, nicht gerechtfertigten und im Minimum unvollständigen wenn nicht gar unwahren Grundlagen fusst.
Paradoxerweise sind Gesellschaften, die sich für frei und demokratisch halten, besonders anfällig für Propaganda. Während zum Beispiel in China jeder weiss, dass von der Regierung und der Partei eine bestimmte Darstellung der Realität zu erwarten ist, die jeweils einen gewissen Wahrheitsgehalt und einen gewissen Propagandaanteil enthalten wird, werden wir Schweizer viel eher getäuscht. Wenn wir annehmen, dass es ob unserer so gut funktionierenden Demokratie und freien Presse keine grösseren und systematischen Verzerrungen im öffentlichen Diskurs gibt, lässt diese Erwartungshaltung wenig Bereitschaft zu, alles systematisch auf Färbung und Verzerrung zu prüfen. Einmal mehr, solche Färbungen sind aber zu erwarten. Und es gibt in der Tat Tendenzen zu Verzerrungen. Auch wenn es schmerzt, dies einzugestehen, scheint mir, dass es keinen Weg darum herum gibt.
Beispiele von verzerrter Weltsicht sind weit verbreitet. Ein beeindruckendes Beispiel wurde vom französischen Monde diplomatique – übrigens einer der wenigen Publikationen in Frankreich mit noch immer unabhängiger Redaktion – verbreitet. Gemäss einer in Frankreich seit 1945 durchgeführten Meinungsumfrage traten erstaunliche Ergebnisse zur Frage zu Tage, welches Land am meisten zur Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg beigetragen habe.
Während 1945 57% mit Sowjetunion antworteten, gegenüber 20% mit USA, war es 2024 gerade umgekehrt. 60% der Befragten nannten die USA, und nur 25% die Sowjetunion. In diesem konkreten Fall haben also nicht alle Kriegsgewinner die ganze Geschichte geschrieben sondern nur diejenigen, welche auch den nachfolgenden Kalten Krieg «gewonnen» haben, und welche bis in den unipolaren Augenblick hinein die Deutungshoheit gehalten haben.
Die dominierenden Narrative unserer Zeit sind transatlantisch, und werden auf Englisch verfasst. Sie spiegeln die weiter oben wiedergegebenen Machtstrukturen in Wirtschaft, Gesellschaft, und Politik. Wer eine ungetrübte Sicht auf die Realität wünscht, sollte sich dessen bewusst sein. Natürlich sind wir umgeben von «unserer eigenen» Propaganda. Es ist die imperial-hegemonial-transatlantisch-neoliberale Propaganda, mit moralischem Anstrich von Demokratie und Menschenrechten.
Durch eine Kombination von Auswahl, Betonung, Filterung und wertender Umrahmung der darzustellenden Sachverhalte, sowie Mechanismen von moralischen und sozialen Sanktionen und Sanktionsandrohungen, wird das Weltsicht-Monopol aufrechterhalten. Schauen wir, inwiefern das unvermeidbare – und, wie oben erwähnt, potentiell gesunde und wünschenswerte – Filterungssystem, dieser Türstehermechanismus, der vierten Gewalt hierzulande überzeugend funktioniert. Könnte es sein, dass das Ausschliessen von bestimmten Stimmen nicht nur in vereinzelten Ausnahmefällen schiefläuft, sondern dass dies systematischer passiert?
Wenn man in Schweizer Publikationen Ausschau hält nach den beschriebenen Verzerrungen, findet man solche weit verbreitet und in üppigem Mass. In einem Artikel auf SRF zum Anlass der 75-Jahr-Feier der Volksrepublik China wird erwähnt, die USA würden von der Regierung Xi Jinpings als Hauptakteur dargestellt, der Chinas Aufstieg behindern möchte. Der Autor des Artikels lässt aber unerwähnt, inwiefern dies tatsächlich der Fall ist, und suggeriert in der Rahmenerzählung eindeutig, dass das ein Hirngespinst und keine einfach zu dokumentierende Tatsache wäre.
Während es durchaus denkbar ist, auf einen möglicherweise vorhandenen Anteil von Übertreibung oder unverhältnismässiger Fokussierung seitens der chinesischen Regierung auf die USA als externen Faktor hinzuweisen, ist das Auslassen der in Worten und Taten bestens bekannten Eindämmungs- und Vorherrschaftspolitik eine schwerwiegende Unterlassung. Dies nicht einmal als möglichen Lektüreschlüssel vorzulegen, ja gar zu suggerieren, dass dies völlig jenseitige und an den Haaren herbeigezogene Konstrukte wären, ist hochgradig tendenziös. Es stellt sich bloss die Frage, ob es sich bei der Unterlassung um einen bewussten manipulativen Propagandaakt, oder aber um ein unbewusstes Irreführen durch mangelndes Verständnis gehandelt hat.
Ein nächstes Beispiel findet sich im Wochenmagazin der Tageszeitung Tagesanzeiger, in einem Interview mit dem Krebsforscher und früheren Tessiner Parlamentarier Franco Cavalli. Der Interviewer erlaubt sich, die sachlich argumentierten Aspekte von Cavallis Sichtweisen nicht nur unbeachtet zu lassen, sondern darüber spottend herzuziehen. Im Kern geht es um die Frage, ob es wahrscheinlicher sei, dass China oder die USA eine Eskalation rund um Taiwan vom Zaun reissen würden.
Während man der Meinung sein kann, dass eher China solche Absichten zuzuschreiben seien, ist auch hier schwer nachvollziehbar, dass die These, wonach die USA mit solchen Absichten in Verbindung gebracht werden könnten, argumentslos abgeschmettert werden kann. Die Hypothese eines aggressiv-hegemonialen Westens, oder konkret der USA, nicht einmal als Gegenstand der Debatte zuzulassen, steht im Gegensatz zu jedem intellektuellen Anspruch. Wie oben dargelegt steht es auch im Gegensatz zu wichtigen tatsachenbasierten Aspekten der realen Welt. Die im Interview vorgebrachte Ausflucht in Anschuldigungen, wonach Kritik an den USA mit sonstigen unhaltbaren Ansichten zusammenkommen würde, und dass dies eine Rechtfertigung sein könne, die Substanz der Kritik zu ignorieren, ist wieder Produkt entweder von gelungener Indoktrinierung oder von faktenresistenter Arroganz und Verklärtheit.
Die Selbstgefälligkeit, mit welcher der Journalist sich berechtigt fühlt, nicht einmal auf die Substanz von Cavallis anti-imperialer Kritik einzugehen, sondern diese einfach pauschal und belächelnd wegzuwischen, ist ein beeindruckendes Beispiel der diskursiven Verzerrung in der Schweizer öffentlichen Debatte. Dass es durchgehen kann, ohne Bezug auf Fakten und Vernunft – «Evidenz und Raison» – eine Argumentation wegzuschlagen, ist näher an doktrinärem Missionieren als an rationalem Diskurs, und deutet auf ein mediales Umfeld mit starker Beeinflussung durch die transatlantisch-hegemonial-unipolaristische Deutungshoheit hin.
Ein letztes Beispiel stammt aus einem Gespräch zwischen der Neuen Zürcher Zeitung mit einem Vertreter des Schweizer Nachrichtendienstes (NDB). Der Journalist, der zwei Tage nach dem Interview, auf das ich mich gleich beziehe, in einem Kommentar suggeriert, die Schweiz müsse auch über die «Nato-Option», einen «Beitrittsplan», nachdenken, spricht in Bezug auf Spionage in der Schweiz als einziges Beispiel die russische Botschaft und die russische UNO-Mission in Genf an. NDB-Chef Dussey geht nicht direkt darauf ein, erwähnt aber an mehr als einer Stelle die Situation eines «hybriden Krieg[es]», in dem wir uns befinden würden.
Der Grundtenor, den ein Schweizer Leser daraus herausliest, ist der einer Bedrohungslage, für welche die Ursache und die Verantwortung sicher nicht im Westen zu suchen ist, und für welche die Hypothese von nicht nur als die Guten zu betrachtenden NATO und USA sicher nicht einmal in Erwägung gezogen wird. Es ist subtil und nicht glasklar, aber die hegemonial-unipolare Realität würde sicher erfordern, dass von einer neutral berichtenden Zeitung auch auf Spionageaktivitäten von anderen Akteuren hingewiesen würde. Nur das Verkennen dieser Realität lässt es zu, den Grundtenor in dieser Tonlage beizubehalten.
Ein paar Generationen unipolarer Augenblick mit dement-sprechender transatlantisch-hegemonialer und neoliberal-imperialer Beeinflussung scheint für einen öffentlichen Diskurs und für eine Elitengeneration gesorgt zu haben, welche den Anspruch der intellektuellen Redlichkeit in bestimmten Grundfragen der gesellschaftlichen Ordnung nicht aufzubringen für nötig hält. Können wir in all dem sicher sein, dass der Mechanismus der vierten Gewalt richtig funktioniert, zum Beispiel in den grossen Themen der letzten Jahre, Corona, Ukraine, und Gaza?
Unterdessen hat sogar Facebook-Gründer Marc Zuckerberg eingestanden, und Bedauern geäussert, dass Facebook unter dem Druck der amerikanischen Regierung auch wahre Informationen zensuriert hatte. Scheint es demgegenüber wahrscheinlich, dass die Schweizer Medien durchgehend als kritisches Gegengewicht funktioniert haben? Ist es angemessen gewesen, dass die Stimme des Anwalts Philipp Kruse nie in etablierten Medienkreisen zu vernehmen gewesen ist, oder dass der Arzt Thomas Binder, der von den Aargauer Behörden durch die Anti-Terroreinheit abgeführt, mit einer neuerfundenen Diagnose «Corona-Wahn» belegt und in die Zwangspsychiatrie gesteckt worden war, trotz der Tatsache, dass er unzweifelhaft Expertenstatus hatte, seine Einschätzungen nie in den breiteren öffentlichen Diskurs hat einbringen können? Auch wenn ihre Ansichten unfundierte Aspekte hätten enthalten haben sollen, zeugt es wirklich von einem reifen und auf der Höhe von Demokratie befindlichen Diskursumfeld, dass solche Stimmen nie zu weiten Kreisen der Bevölkerung gelangen konnten?
Sind wir sicher, dass wir Jacques Baud, einen nachweislichen Experten der Schweizer Armee, der bei der NATO sowie für die OSZE in der Ukraine stationiert gewesen war, aus dem Schweizer Diskurs verbannen möchten, da er in zentralen Punkten der abgesegneten Propagandalinie widerspricht? Spricht es für eine funktionierende vierte Gewalt, und entspricht es den Schweizer Werten, dass auch sich für informiert und interessiert haltende Schweizer nicht einmal um seine Existenz wissen, geschweige denn sich seine Ansichten zu Gemüte geführt haben, wenn auch nur um diesen potentiell schlagkräftigere Argumente entgegenzusetzen?
Wagt man die Hypothese der Wahrscheinlichkeit von Verzerrung, wird einiges kohärenter erklärbar. Ein beeindruckendes Beispiel ist die Auseinandersetzung mit der Sprengung der Gaspipelines Nordstream 1 und 2 vom Herbst 2022 gewesen. Nachdem nach anfänglichen Anschuldigungen in westlichen Medien, Russland wäre involviert gewesen, die Absurdität dieser Idee anerkannt und von niemandem mehr suggeriert wurde, wurden die einzigen Hypothesen zur Urheberschaft einerseits jene der USA – vom Investigativjournalisten Seymour Hersh im Februar 2023 publiziert – und andererseits jene der Ukraine. Am bemerkenswertesten war nicht, dass Hershs Hypothese, die damals die einzige mit Details und hohem Grad an interner Validität präsentierte Darstellung war, im öffentlichen Diskurs kaum präsent war. Der entscheidende Punkt war, dass nicht einmal erachtet wurde, dass diese Hypothese zumindest falsifiziert zu werden verdiente, so sie denn falsch sein sollte, das heisst, dass sie trotz möglicher Falschheit in jedem von Vernunft und Offenheit animierten Diskurs mindestens hätte thematisiert werden müssen, dies aber nicht wurde.
Es wurde nicht einmal das Nötige gemacht, um wenigstens eine halb-kohärente Illusion eines solid funktionierenden öffentlichen Diskurses aufrechtzuerhalten. Ohne «Verzerrungshypothese» gab es im Frühling 2023 schlichtweg keine Möglichkeit, sich in diesem Zustand der diskursiven Realität mit Logik und Wahrheitsanspruch wohl zu fühlen.
Auch in den Tagen nach dem 7. Oktober 2023 war es angebracht, die kolportierten Geschichten mit Skepsis auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Unterdessen ist die Geschichte von angeblich 40 enthaupteten Säuglingen auch von Mainstream-medien und offizieller Seite als unwahr anerkannt, und als pure Fabrikation und Greuelpropaganda entlarvt.
Diesem und weniger krassen Fällen gegenüber bleibt einem natürlich immer noch die Möglichkeit, die Wichtigkeit von Wahrheit an sich in Frage zu stellen. Man kann argumentieren, dass Manipulation in gewissen Fällen gerechtfertigt sein kann. Allgemeiner gesprochen besteht die Möglichkeit, die Realität unserer eigenen Propaganda gutzuheissen, eher als sie als unwahr zu verdammen. Mann kann dies – aus Gründen, die zu nennen wären – gut und richtig oder sonstwie notwendig finden, auch wenn viele Leute, ich selbst inklusive, dem wenig abgewinnen können.
Was jedoch nicht möglich ist, ist in Aufrichtigkeit die Existenz solcher Propaganda zu verneinen. Und was ebensowenig in Kohärenz möglich ist, ist unsere Propaganda gutzuheissen und gleichzeitig so zu tun, als würden wir über eine vorbildhaft offene, freie, und der Wahrheit und Kritik verpflichtete Medienlandschaft verfügen.
Auszüge aus Wir und der Westen:
→ 1/11 Erste Spuren des Westens vor 2500 Jahren?
→ 2/11 Das antike Griechenland als Schlüsselreferenz – nicht nur für den Westen
→ 3/11 Das Römische Reich – Ausgangspunkt des Westens?
→ 4/11 Die Entstehung der Schweiz inmitten des Westens
→ 5/11 Westliche Expansion und imperiale Kontinuität
→ 6/11 Der Westen in der Neuzeit – Das Mass fast aller Dinge
→ 7/11 Der Westen in der Weltordnung
→ 8/11 Unipolar-hegemonial-transatlantisch gefärbte und verzerrte Perspektiven
→ 9/11 Rahmenerzählung und Realität im unipolaren Augenblick
→ 10/11 Westliche Funktionsweisen – «liberal» und «demokratisch»?
→ 11/11 Kaum verschleierte Oligarchien oder wirklich legitime Gesellschaftsordnung?